Der Aufbewarier (German Edition)
sie die anderen an. Seit sie das Versteck hinter der Werkstatt bewohnte, wurde bei der Arbeit oft gesungen und gelacht. Hätte Kurt doch nur etwas vom Optimismus seiner kleinen Schwester.
Aber nicht nur wegen Charlys Lebensfreude hatte Carla neue Hoffnung geschöpft. Vor allem Weidts Versprechen, Kurt ein Versteck zu besorgen, ließ sie wieder Mut fassen. Jetzt musste sie zuallererst herausfinden, wohin sie ihren Mann gebracht hatten. Als sie die Blindenwerkstatt verließ, kam ihr eine Idee. Vor ein paar Wochen hatte sie Horst Busch kennengelernt, der wie Kurt zur Zwangsarbeit bei Borsig verpflichtet worden war. Auch er war mit einer Nichtjüdin verheiratet. Sie hieß Ella und war eine rundliche Frau, der man sofort anmerkte, dass sie mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Sie hatte Carla erzählt, dass es eine Telefon- und Nachrichtenkette von Frauen in »Mischehen« gab. »Falls mal was passiert ...«, hatte sie nur geraunt. Und jetzt war etwas passiert. Das Ehepaar Busch wohnte nur etwa eine Viertelstunde Fußweg vom Weidts Werkstatt entfernt. Als Carla an der Haustür klingelte, wurde nach wenigen Sekunden geöffnet.
»Ach du bist es, Carla. Komm rein. Jedes Mal, wenn es an der Tür läutet, springe ich wie von der Tarantel gestochen auf, weil ich hoffe, es wäre Horst. Dabei hat er doch einen Schlüssel. Wobei ... den können sie ihm ja auch abgenommen haben.«
Carla verstand sofort, dass Ella losplaudern musste, um ihre Angst und Unsicherheit zu kaschieren.
Ella führte Carla in die Küche, bot ihr einen Stuhl an und setzte sich selbst auf die Eckbank.
»Kurt also auch?« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
Carla nickte. »Du kennst doch Otto Weidt. Er hat mich gestern gewarnt, dass irgendetwas passieren könnte. Aber Kurt musste ja seinen Dickkopf durchsetzen und zur Arbeit gehen.«
»So sind sie halt, unsere Männer.«
Ella strich sich eine vorwitzige Strähne aus der Stirn.
»Wir wissen nicht genau, was passiert ist. Nur dass sie fast alle Juden an ihren Arbeitsplätzen verhaftet haben. Ein paar Tausend Männer müssen das gewesen sein, die haben sie nicht in einem Gebäude unterbringen können. Auf jeden Fall sind einige in der Synagoge in der Levetzowstraße, im jüdischen Altersheim in der Großen Hamburgischen, im Wohlfahrtsamt in der Rosenstraße und im Clou.«
»Du meinst dieses alte Konzerthaus?«
»Genau.«
Ella schwieg und starrte auf den Tisch. Carla nutzte die Pause, die entscheidende Frage zu stellen:
»Werden Sie unsere Männer in den Osten bringen?«
Ella schaute Carla in die Augen. »Ich weiß es nicht. Aber ich habe Angst. Große Angst.« Ein paar Sekunden später schüttelte sie sich und sprang auf. »Ach was, wird schon nicht so weit kommen. Bisher hieß es doch immer, Juden in Mischehen seien sicher. Und sie brauchen doch jede Arbeitskraft.«
Ella ging an den Küchenschrank, nahm zwei Likörgläser und eine Flasche heraus. »Darauf müssen wir erst mal einen trinken.« Sie hob die Flasche hoch. »Aufgesetzter von meiner Mutter. Frag mich nicht, wie sie an das Zeug kommt.«
Sie füllte die Gläser mit der hellroten Flüssigkeit und prostete Carla zu. Carla erhob ebenfalls das Glas.
»Auf unsere Männer!«
Zehn
Vor dem Eingangsportal zum Clou stand ein einzelner SS-Sturmmann, das Gewehr locker über der Schulter. Daut ging direkt auf die Eingangstür zu, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Der Mann machte einen Schritt zur Seite.
»Stehen bleiben!«
»Ich habe da drin eine wichtige Ermittlung zu führen.«
»So siehst du auch aus! Als ob ein Schutzmann Ermittlungen führt.«
Daut richtete sich zu voller Größe auf und hakte den rechten Daumen im Koppel ein.
»Sturmmann ... wie ist Ihr Name?«
»Kramer, Herr Wachtmeister.« Er klang belustigt.
»Also gut, Sturmmann Kramer. Sie lassen mich jetzt da rein und mit dem zuständigen Offizier sprechen. Andernfalls informiere ich Hauptsturmführer Rösen von der Kriminalpolizei, wie unkooperativ man mich hier behandelt hat.«
Es war wie immer: die Erwähnung eines höheren SS-Dienstgrades schüchterte den jungen Schnösel ein. Er trat einen Schritt zur Seite und gab den Weg frei.
Durch einen düsteren Vorraum betrat Daut den einstmals verschwenderisch ausgestatteten Saal des Konzerthauses. Heute wirkte er trist wie eine Fabrikhalle. Von der prachtvollen Ausstattung war nichts mehr geblieben. Die Ummantelung der gusseisernen Säulen war abmontiert oder schwer beschädigt. Auch die
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