Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Gedanken, auf dass es die Herrschaft über alles Übrige ausüben könnte – da trat der Mensch in die Welt, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener Baumeister des Alls, der Schöpfer (opifex rerum) einer besseren Ordnung, hervorgehen ließ oder dass die junge, eben erst vom hohen Äther getrennte Erde noch Samenkörner des verwandten Himmels enthielt. Diese Erde formte, vermischt mit Wasser vom Flusse, Prometheus, des Iapetos Sohn, nach dem Bild der alles regierenden Götter. Und während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken, gab er dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben. So nahm ein eben noch roher, ausdrucksloser Erdenkloß, verwandelt, die bis dahin unbekannten Züge des Menschen an.» (I,76–88) Nun erst war die Welt komplett.
Überraschend schnell sind wir damit von der Entstehung des Kosmos zum aufrechten Gang des Menschen vorgestoßen. Und überraschend groß ist das Gewicht, das Ovid diesem körperlichen Merkmal zuschreibt. Denn «während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken», gab der Weltkonstrukteur «dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben». Hier wird nicht einfach festgestellt, dass der Mensch als einziges unter den Tieren aufrecht geht und steht. Behauptet wird vielmehr, dass er überhaupt erst damit zum Menschen wird. Denn es wird ja ausdrücklich gesagt, dass «ein eben noch roher, ausdrucksloser Erdenkloß» durch die Aufrichtung «die bis dahin unbekannten Züge des Menschen» annimmt. Das ist eine starke Behauptung; und mit ihr sind wir beim Thema dieses Buches.
Nun ist der aufrechte Gang nur eines der Denkmotive, die Ovid anspricht. Die wenigen zitierten Zeilen knüpfen ein dichtes Gedankengeflecht, das (mindestens) sechs Knotenpunkte miteinander verbindet. (1) Zunächst ist an die der zitierten Passage vorhergehende Erzählung von der gigantischen Transformation des Chaos in den Kosmos zu erinnern. Wenn der Mensch die Bühne betritt, ist dieser Prozess bereits abgeschlossen; beinahe jedenfalls. Der Mensch kommt in eine geordnete Welt, als deren Teil er geschaffen wurde. (2) Behauptet wird weiter, dass der Mensch nicht nur in der Welt lebt und daher ihr Teil ist; sondern dass er ein notwendiger Teil der Weltordnung ist, so wie ein Organ notwendiges Glied eines Organismus ist. Im Text wird dies hervorgehoben: Als alles andere bereits geschaffen war, «fehlte» noch ein bestimmtes Wesen. Ohne den Menschen wäre die Weltordnung also unvollständig. (3) Sodann erfahren wir, welche Art von Wesen fehlte: Ein zum Denken befähigtes Wesen. Diese Fähigkeit besitzen die übrigen Lebewesen nicht; sie ist aber (der Text setzt es ohne weitere Erklärung voraus) notwendig, um die Weltordnung komplett zu machen. (4) Darin, dass nur er zum Denken befähigt ist, liegt seine Überlegenheit gegenüber allen anderen Wesen. Der Mensch ist nicht nur anders, er ist besser als die Tiere. Schon daran, dass er zuletzt erschaffen wurde, zeigt sich das. Denn dieses ‹Zuletzt› spielt wohl weniger auf eine zeitliche Reihenfolge an, als auf den Höhepunkt der Weltschöpfung. Der Mensch nimmt eine ausgezeichnete Stellung in der Welt ein und ist daher der legitime Herrscher über sie, insbesondere über die übrigen Lebewesen. (5) Seine Grundlage hat diese Sonderstellung in dem göttlichen Element, das dem Menschen ungeachtet seiner materiellen Daseinsweise, auf die der Text im letzten Vers mit dem Ausdruck «Erdenkloß» anspielt, innewohnt. Ovid bleibt unentschieden zwischen zwei verschiedenen Deutungen dieses göttlichen Elements. Nach der einen, eher philosophischen Deutung schuf ihn der Weltkonstrukteur direkt aus «göttlichem Samen»; nach der anderen, traditionell mythischen Deutung schuf ihn Prometheus, indem er Erde, die noch Samenkörner des göttlichen Himmels enthielt, mit Wasser vermischte und den Menschen «nach dem Bild der alles regierenden Götter» formte. (6) Schließlich finden das göttliche Element und der aus ihm resultierende Herrschaftsanspruch des Menschen ihren Ausdruck in seiner aufrechten Haltung. Diese ist kein bloßes Faktum, kein naturhistorischer Zufall; sie wird ihm wie eine Auszeichnung ‹verliehen› und zugleich als eine Aufgabe übertragen. Sie ist das sichtbare Zeichen für die besondere Bestimmung des Menschen als Betrachter des Himmels und der Sterne. Geschaffen wurde der Mensch also nicht nur, weil die
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