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Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Titel: Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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entschlossen aber nicht ohne Brutalität sagte, Tina werde nicht wiederkommen, sie sei tot, eine Nachricht, die von der Alten zuerst gleichgültig entgegengenommen wurde, so als hätte sie nicht begriffen, doch plötzlich fing sie an zu feixen, in sich hineinzukichern, aus Verzweiflung, wie es der F. allmählich aufging, und, indem sie die Alte bei der Schulter packte und schüttelte, verlangte sie, in das Zimmer geführt zu werden, das Tina gemietet hätte, worauf die Alte etwas murmelte, das, weil sie dabei wieder kicherte, wie »ganz oben« klang, um 40

    dann, wie die F. die Treppe hinaufging, in ein Schluchzen auszubrechen, um welches sich die F. freilich nicht mehr kümmerte, hatte sie doch im zweiten Stockwerk ein Zimmer gefunden, das vielleicht das Zimmer Tina von Lamberts gewesen war, ein Zimmer besser als jenes, in welchem die F.
    geschlafen hatte, ausgestattet mit Anzeichen eines gewissen Komforts, der zu dem Hotel nicht paßte und die F. überraschte, als sie sich umschaute: ein breites Bett mit einer alten Stepp-decke undefinierbarer Farbe, ein Kamin, offenbar noch nie gebraucht, auf ihm einige Bände Jules Verne, über ihm wieder das vergilbte Bild des Marschall Lyautey, eine alte Schreibkommode, ein Bad, die Kacheln nur noch teilweise intakt und in der Wanne Rostflecken, zerschlissene Sammetvorhänge, ein Balkon, gegen die ferne Sandwüste gelegen, und wie sie ihn betrat, sah sie hinter einem kleinen Gemäuer etwa hundert Meter wüstenabwärts etwas verschwinden, sie wartete und dann kam es wieder, es war der Kopf eines Mannes, der sie mit einem Fernglas beobachtete, so daß sie an den von Tina zweimal unterstrichenen Satz »ich werde beobachtet« denken mußte und als sie ins Zimmer zurücktrat, war in ihm schon die Alte mit dem Koffer, dem Bademantel und der Tasche der F., als sei es selbstverständlich, auch hatte sie Bettwäsche mitgebracht, worauf die F. gereizt fragte, ob sie telefonieren könne, nach unten gewiesen fand sie in einem dunklen Korridor neben der Küche das Telefon, trotzig beschloß sie, den Logiker D.
    anzurufen, überzeugt, daß die Verbindung nicht zustande käme, aber entschlossen, das Unmögliche zu versuchen, hob sie den Hörer von der Gabel des alten Apparats, er war tot, es konnte sich um eine Vorsichtsmaßnahme des Chefs des Geheimdienstes handeln, er hatte sie hierher bringen lassen, wo auch Tina von Lambert gewesen war, aber plötzlich mißtraute sie dessen Begründungen, vor allem deshalb, weil sie sich nicht vorstellen konnte, was Tina bewogen haben sollte, mit einem 41

    Wagen, wie die Alte erzählt hatte, in der Wüste herumzufah-ren, vor der offenen Balkontüre auf dem Boden sitzend, dann wieder indem sie sich aufs Bett legte und zur Decke starrte, versuchte sie Tina von Lamberts Schicksal zu rekonstruieren, sie ging aufs neue vorn einzig sicheren Ausgangspunkt aus, von Tinas Tagebüchern, und versuchte alle Möglichkeiten durchzuspielen, um zum sicheren Ende zu gelangen, zu Tinas von Schakalen zerfleischter Leiche bei der Al-Hakim-Ruine, doch nie kam sie zu einer schlüssigen Annahme, das Verlassen ihres Hauses, »kurzerhand« wie sich von Lambert ausgedrückt hatte, war eine Flucht gewesen, aber in dieses Land war sie nicht wie eine Flüchtende gekommen, sondern mit einem ganz bestimmten Ziel, so wie sie sich benommen hatte, hätte sich eine Journalistin benommen, die einem Geheimnis nachspürte, aber Tina war keine Journalistin, eine Liebesgeschichte war denkbar, aber nichts deutete auf eine Liebesgeschichte hin, ohne eine Lösung gefunden zu haben trat sie später vors Haus, die Wolke am Bergrücken hatte sich vergrößert, begann sich heranzuschieben, sie ging den Weg zurück, den sie gekommen war, geriet auf eine steinige Hochebene, der Weg verzweigte sich, sie wählte einen Weg, der sich nach einer halben Stunde wieder verzweigte, sie ging zurück, stand lange vor dem einsamen Haus, das sinnlos dastand, mit der Haustür, die wieder auf und zu schlug, und mit dem Schild darüber GRANDHÔTEL MARÉCHAL LYAUTEY und über dem Schild das schwarze Rechteck eines Fensters, das einzige in der Hausmauer, die einmal weiß gewesen sein mußte und nun alle Schattierungen von Grau aufwies, das in alle Farben des Spektrums hineinspielte, derart als wäre es vor Urzeiten von Riesen angekotzt worden, und nicht nur während sie dastand und nach dem Haus schaute und nach dem Fenster, hinter dem sie geschlafen hatte, sondern auch Stunden vorher, eigentlich kaum hatte sie das

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