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Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter

Titel: Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Haus verlassen, wußte sie und hatte sie 42

    gewußt, daß sie beobachtet wurde, auch wenn sie niemanden sah, der sie beobachtete und als der Sonnenball hinter der fernen Sandwüste versank, auf einmal so schnell, als ob er fiele, und die Dämmerung hereinbrach, in der nur noch die gewaltige Wolkenwand in ihren obersten Schichten brennender Sand zu sein schien und sie ins Haus hineinging, waren im Speisezimmer unter dem Bild des Marschalls der Tisch schon gedeckt und die Speisen aufgetragen, in einer Schüssel Schaf-fleisch in einer roten Sauce und Weißbrot, dazu Rotwein, die Alte war nicht zu sehen, sie aß wenig, trank Wein, ging dann in das Zimmer, in welchem auch Tina von Lambert gehaust hatte, trat auf den Balkon, war es ihr doch gewesen, als hätte sie, während sie aß, ein fernes Donnern gehört, die Wolkenwand mußte wieder zurückgewichen sein, vor ihr und über ihr brannten noch die Wintersterne, doch fern am Horizont sah sie einen gleißenden Widerschein und ein Aufblitzen, es war wie ein Gewitter und doch nicht und über allem hing das ferne unbestimmbare Donnern und wieder war es, als ob sie aus dem Dunkeln, das zu ihr heraufdrang, beobachtet werde und wieder im Zimmer, schon im Bademantel, in welchem sie auch schlief, mit Grausen die rostige Badewanne betrachtend, hörte sie ein Auto herankommen, doch ohne anzuhalten vorbeifahren, kurz darauf ein zweites, das hielt, dann ein Rufen, jemand mußte das Haus betreten haben, rief weiter, ob jemand da sei, kam in den ersten Stock hinauf, rief »hallo, hallo« und als die F.
    hinunterging, den roten Pelzmantel über den Bademantel geworfen, fand sie einen jungen strohblonden Mann vor, der im Begriff war, zu ihr hinaufzusteigen, der eine blaue Cordhose, Joggingschuhe und eine wattierte Jacke trug, sie mit weit aufgerissenen blauen Augen anstarrte und stammelte »Gott sei Dank, Gott sei Dank«, und als sie fragte, wofür denn Gott zu danken sei, die Treppe hinaufstürzte, sie umarmte und schrie, weil sie lebe, er habe es dem Chef gesagt und mit ihm gewettet, 43

    daß sie noch lebe und nun lebe sie noch und damit sprang er die Treppe wieder hinunter, dann die zweite und als die F. ihm folgend die Halle erreicht hatte, sah sie den Strohblonden Koffer hereinschleppen, was sie auf den Gedanken brachte, daß es sich um den ihr versprochenen Kameramann handeln könne und sie fragte ihn, worauf er antwortete, »erraten« und die Kamera aus dem Wagen holte, aus einem VW-Bus wie sie durch die offene Türe bemerkte, vor der das Auto stand, dann sagte er an der Filmkamera hantierend, die könne er auch in der Nacht brauchen, Spezialoptik, ihre Berichte seien phantastisch gewesen, eine Bemerkung, die sie stutzen und fragen ließ, ob er sich denn nicht vorstellen wolle, worauf er rot wurde und stammelte, er heiße Björn Olsen und sie könne ruhig Dänisch mit ihm reden, was sie an den zwerghaften, grinsenden Mann denken ließ, der eine Zigarette rauchend an der Wand gestanden, die Zigarette ausgetreten hatte und in sich zusammenge-fallen war, und sie antwortete, sie könne nicht Dänisch, er müsse sie mit jemandem verwechseln, was ihn beinahe die Kamera fallen ließ, und schreiend und auf den Boden stamp-fend, nein, nein, das dürfe nicht wahr sein, sie trage doch einen roten Pelzmantel, trug er die Kamera und die Koffer wieder in den Bus, kletterte in den Bus und fuhr los, doch nicht nach M.
    zurück, sondern dem Gebirge zu, und als sie in ihr Zimmer hinaufging, erschütterte auf einmal eine Explosion das Haus, doch war alles wieder ruhig, als sie den Balkon betrat, auch das Wetterleuchten und das gleißende Licht in der fernen Sandwü-
    ste war erloschen, nur die Sterne brannten so bedrohlich, daß sie ins Zimmer zurückkehrte und die zerschlissenen Sammetvorhänge zuzog, wobei ihr Blick auf die Schreibkommode fiel, sie war unverschlossen und leer, dann erst bemerkte sie den Papierkorb neben der Schreibkommode und in ihm ein zerknülltes Papier, das sie auseinanderfaltete und glättete, in einer Handschrift, die sie nicht kannte, war etwas geschrieben, 44

    offenbar ein Zitat, denn es stand in Anführungszeichen, aber da es eine nordische Sprache war, verstand sie es nicht, hartnäckig wie sie war, setzte sie sich an die Schreibkommode, die sie heruntergeklappt hatte und versuchte zu übersetzen, wobei ihr freilich Wörter wie »edderkop« oder »tomt rum« oder »fodfaeste« Mühe bereiteten, es war Mitternacht als sie glaubte, das Zitat enträtselt zu haben: ›Was

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