Der aufziehende Sturm
Cadsuanes Tempo machte sie verdächtig. Was war geschehen? Hatte es mit Rand zu tun? Wenn es dieser Mann schon wieder geschafft hatte, sich zu verletzen ...
»Entschuldigt mich, Daigian«, sagte sie und stand auf. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich mich um etwas kümmern muss.«
»Oh. Nun, natürlich, Nynaeve. Wir können ja zu einem anderen Zeitpunkt weitermachen.«
Erst als Nynaeve aus der Tür und die Treppe hinuntergeeilt war, wurde ihr bewusst, dass Daigian tatsächlich ihren Namen benutzt hatte. Sie lächelte, als sie den Rasen betrat.
Aiel waren im Lager. Für sich genommen war das nicht ungewöhnlich; Rand benutzte oft eine Abteilung Töchter als Leibwache. Aber diese Aiel waren Männer im hellbraunen Cadin'sor und mit Speeren an der Seite. Eine nicht unbedeutende Anzahl trug Stirnbinden mit Rands Symbol.
Darum hatte es Cadsuane so eilig gehabt; wenn die Clanhäuptlinge der Aiel eingetroffen waren, würde Rand sie sehen wollen. Nynaeve schritt über den Rasen - der keine große Ähnlichkeit mehr mit einem Rasen hatte - und war empört. Rand hatte nicht nach ihr geschickt. Vermutlich nicht, weil er sie nicht dabeihaben wollte, sondern weil er einfach zu stur war, daran zu denken. Wiedergeborener Drache oder nicht, dem Mann kam es nur selten in den Sinn, seine Pläne mit anderen zu teilen. Man hätte annehmen sollen, dass er mittlerweile erkannt hätte, wie wichtig es war, einen Rat von jemandem zu bekommen, der etwas mehr Erfahrung als er hatte. Wie oft war er wegen seiner Unbesonnenheit entführt, verletzt oder eingesperrt worden?
In diesem Lager mochte sich ja jedermann vor ihm verbeugen oder einen Narren an ihm gefressen haben, aber sie wusste, dass er im Grunde nichts anderes als ein Schafhirte aus Emondsfelde war. Er brockte sich noch immer auf die gleiche Weise Ärger ein wie als Junge, wenn er und Mat Streiche ausgeheckt hatten. Nur dass er jetzt nicht mehr die Dorfmädchen in Aufregung versetzte, sondern ganze Nationen ins Chaos stürzen konnte.
An der nördlichen Seite des Rasens - direkt gegenüber vom Haus, in der Nähe des Erdwalls - bauten die Aiel ihr Lager auf, komplett mit braunen Zelten. Sie stellten sie anders als die Saldaeaner auf; statt gerader Reihen zogen die Aiel kleine Gruppen vor, organisiert nach den Gemeinschaften. Einige von Basheres Männern riefen vorbeigehenden Aiel Grüße zu, aber keiner machte Anstalten, ihnen zu helfen. Aiel konnten ein kratzbürstiger Haufen sein, und auch wenn Nynaeve die Saldaeaner bei weitem weniger irrational als manch andere fand, blieben es doch Grenzländer. Scharmützel mit den Aiel waren früher Alltag für sie gewesen, und der Aiel-Krieg selbst war noch lange nicht vergessen. Im Augenblick kämpften sie alle auf derselben Seite, aber das hielt die Saldaeaner nicht davon ab, etwas aufmerksamer zu sein, jetzt, da die Aiel in großer Anzahl eingetroffen waren.
Sie hielt nach Rand oder ihr bekannten Aiel Ausschau. Sie bezweifelte, dass Aviendha dabei sein würde; sie würde in Cairhien Elayne helfen, sich den Thron von Andor zu sichern. Tatsächlich fühlte sie sich noch immer etwas schuldig, dass sie sie verlassen hatte, aber jemand hatte Rand dabei helfen müssen, Saidin zu reinigen. Das gehörte nun wirklich nicht zu den Dingen, die man ihn allein machen ließ. Wo steckte er bloß?
Nynaeve blieb an der Grenze zwischen den Saldaeanern und dem neuen Aiel-Lager stehen. Soldaten mit Lanzen nickten ihr respektvoll zu. Aiel in Braun und Grün glitten mit Bewegungen so geschmeidig wie Wasser über das Gras. Frauen in Blau und Grün trugen Wäsche von dem Bach neben dem Herrenhaus. Kiefern bebten im Wind. Im Lager herrschte ein Betrieb wie auf dem Dorfplatz zu Bel Tine. In welche Richtung war Cadsuane nur gegangen?
Sie spürte, wie im Nordosten die Macht gelenkt wurde. Lächelnd setzte sie sich energisch und mit rauschendem gelben Rock in Bewegung. Die Machtlenkerinnen würden entweder Aes Sedai oder Weise Frauen sein. Bald sah sie ein größeres Aielzelt an der Ecke des Rasens. Sie ging direkt darauf zu, und ihr Blick - oder vielleicht ihr Ruf - sorgte dafür, dass ihr die saldaeanischen Soldaten den Weg frei machten. Die Töchter, die den Eingang bewachten, versuchten nicht, sie aufzuhalten.
Rand trug Schwarz und Rot. Er blätterte auf einem stabilen Holztisch Karten durch, den linken Arm auf dem Rücken gehalten. Bashere stand neben ihm, nickte und studierte eine kleine Karte, die er vor sich hielt.
Als sie eintrat, schaute Rand auf.
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