Der Augenblick der Wahrheit
Schuganow sah mich an und nickte.
»Wir kommen der Sache näher«, sagte er.
Wir bogen nach rechts ab und fuhren über einen holprigen Weg zwischen kleinen Holzhäusern und weiter an großen roten und gelben Steinvillen vorüber, die von hohen Hecken umgeben waren, immer tiefer in den Wald hinein. Hier war der Schnee hart und festgefahren, und selbst mit Spikes geriet der Mercedes auf der Straße ein paarmal ins Rutschen. Wir kamen auf einen Parkplatz oder eine Lichtung, und der Fahrer schaltete den Motor ab. Wir stiegen aus. Igor und Schuganow nahmen jeder eine Art weißen Overall mit Kapuze aus dem Kofferraum. Sie zogen ihn an. Schuganow sprach leise russisch in sein Walkie-talkie und erhielt einen kurzen schnarrenden Bescheid.
»Das Objekt hat die Villa noch nicht verlassen. Setzen Sie sich also lieber ins Auto, damit Sie nicht anfangen zu frieren. Ich schicke Igor vor, damit er zwischen Ihnen und der Villa ist, und Sie führe ich selbst, in Ordnung?«
Ich fror nicht, obwohl die Kälte beißend war. Ich war zu gespannt. Es war völlig still. Der Wald bestand aus großen Birken und wirkte trotz kleiner Pfade, die von einem breiteren Waldweg abgingen, wild und urwüchsig. Nach den vielen Spuren zu urteilen, die sich zwischen den Stämmen kreuzten, mußten hier auch eine Menge Skilangläufer entlangkommen.
Igor schnallte sich ein Paar kurze Skier unter und lief leichtfüßig in den Wald. Durch den weißen Overall, in den dünne goldene Fäden eingewoben waren, war er nach ein paar Schritten nicht mehr von den weißgelben Birkenstämmen zu unterscheiden. Ich setzte mich auf den Rücksitz. Der Fahrer machte Motor und Heizung an, und Schuganow gab mir noch eine Tasse Kaffee. Es war wie bei der Arbeit. Man kam vorwärts, man hatte sich vorbereitet, man war bereit. Nun konnte man nur noch warten.
Aber im Vergleich zu anderen Situationen, wo ich auf dem Bauch gelegen oder in einer Toröffnung gestanden und dem Opfer aufgelauert hatte, wurde meine Geduld in dem Wald vor Moskau auf keine längere Probe gestellt. Nach einer halben Stunde schnarrte Schuganows Walkie-talkie, und er gab eine kurze Rückmeldung. Ich stieg aus. Schnee lag in der Luft. Die Wolken hingen schwer und grau herab, und man hörte nicht sehr weit oben in der Wolkenschicht das Motorengeräusch eines Flugzeugs, als wären wir in einer Einflugschneise. Vielleicht war ich selbst schon über diese Wälder, Wasserläufe und Seen geflogen.
»Das Objekt nähert sich«, sagte Schuganow. »Die Frau ist dabei, und der große Ire ist der Leibwächter. Er geht wie üblich ein paar Meter hinter ihnen. Obwohl sie deutsch miteinander reden, wollen sie ihn offenbar gern etwas außer Hörweite haben.«
»Okay«, sagte ich und zog die Handschuhe an und die Wollmütze über die Ohren. Ich war an solche Kälte nicht gewöhnt.
»Laufen Sie Ski, Mr. Lime?« fragte er.
»Überhaupt nicht«, sagte ich.
»Damit hatte ich auch nicht gerechnet. Ich führe Sie vor das Objekt, bleibe selbst etwas zurück und trete zwischen Bodyguard und Objekt, das ich dann Ihnen überlasse. Wie lange brauchen Sie, um das Geschäft abzuschließen?«
»Fünf Minuten. Ich will ihm nur eine Frage stellen.«
Schuganow sah mich ungläubig an, gab einen kurzen Bescheid in sein Walkie-talkie, und dann gingen wir. Wir folgten Igors Skispur und waren rasch im Wald. Wir hatten uns höchstens ein paar hundert Meter von der Landstraße entfernt, und schon verlor ich die Orientierung. Alles sah gleich aus. Schnee, Birken, niedrige Büsche. Es gab keine Sonne, nach der man seinen Standort bestimmen konnte, und als wir erst nach rechts und dann nach links gingen, um umgestürzten Bäumen auszuweichen, und irgendwann einen Parallelweg und dann einen anderen einschlugen, wußte ich nicht mehr, wo die Landstraße lag. Wenn mich Schuganow allein ließ, konnte ich mich leicht verirren. Ich war gewohnt, in Städten zu jagen. Ich war kein Naturmensch, der sich in der Wildnis durchschlagen konnte.
Schuganow ging mit ruhigen, gleitenden Schritten. In seinem weißen Tarnanzug würde er leicht verschwinden können. Man hörte nur das Knirschen seiner Militärstiefel im Schnee, während ich ständig in kleine Schneelöcher trat oder mich in einem Zweig verhakte. Noch war ich ziemlich gut in Form, aber ich war nicht gewohnt, im Schnee zu gehen. Nach knapp zehn Minuten erreichten wir plötzlich einen breiteren Weg. Hier war der Schnee festgestampft und es gab viele Skispuren. Der Weg verlief einige Meter
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