Der Augensammler
geführt hatten?
Am Ende war es Alina, die mich angetrieben hatte. Mich anschrie, ich solle keine Zeit verlieren und endlich losfahren.
Weg von diesem Ort des Grauens, dem Konzentrat aller zukünftigen Alpträume.
Ich hörte sie neben mir auf dem Sofa die Beine übereinanderschlagen und öffnete überrascht die Augen. Fast wäre ich aus Erschöpfung über meine alptraumhaften Erinnerungen eingeschlafen.
»An Tagen wie diesen verfluche ich mein Schicksal«, sagte sie leise. »Und damit meine ich nicht, dass ich blind bin.« Sie trank einen weiteren Schluck. Ihre Unterlippe bebte und wollte selbst dann nicht aufhören zu zittern, als sie mit den Schneidezähnen darauf biss.
»Ich spreche von meiner Gabe.« Eine Träne löste sich aus ihrem rechten Auge.
Ich streckte die Hand nach ihr aus. »Vorhin im Keller«, sagte ich leise, »als du die sterbende Frau berührt hast, da ist es wieder passiert, nicht wahr?« »Nein.« Sie sah auf. »Es ist schlimmer.« »Wie meinst du das?«
Was kann denn noch schlimmer sein als das bisher Erlebte? »Ich habe da unten in dem Keller etwas entdeckt.« »Über den Augensammler?«, fragte ich. »Nein, über mich.«
Sie riss sich die Perücke vom Kopf, tippte sich gegen die Stirn und schüttelte wütend den rasierten Schädel. »Ich habe in diesem Keller etwas ganz Schreckliches über mich selbst herausgefunden!«
28. Kapitel
(Noch 3 Stunden und 59 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Philipp Stoya (Leiter der Mordkommission)
Wo ist er?«
»Tut mir leid, diesmal habe ich wirklich nicht die geringste Ahnung.«
Frank rieb sich das rechte Ohr und schien froh, dass Scholle bei diesem zweiten Verhör, diesmal auf dem Revier der Mordkommission, fehlte. Stoya war sich immer noch nicht sicher, was passiert wäre, wenn er nur eine Sekunde später von der Toilette zurück in den Konferenzraum gekommen wäre. Er hatte gesehen, wie Scholle blitzschnell den Griff gelockert und einen länglichen Gegenstand aus dem Ohr des Volontärs gezogen hatte.
»War nur Spaß, hab ihn etwas gekitzelt«, hatte er ihm versichert. Aber der Hass in den Augen und die unverhohlene Aggressivität in der Stimme seines Partners hatten eine andere Sprache gesprochen. Er hätte zugestoßen!
Philipp wusste, wozu Scholle fähig war, wenn er bei einem Fall nicht weiterkam. Dabei war er nicht immer so rücksichtslos gewesen. Doch seine Scheidung hatte ihn verändert und den gutmütigen Polizisten in einen unberechenbaren Ermittler verwandelt. Seine Ehe mit der russischen Tänzerin, die er bei einer Razzia in einem Nachtlokal kennengelernt hatte, war von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Scholle hatte wieder einmal Liebe mit Mitleid verwechselt, eine direkte Nebenwirkung seines ausgeprägten Helfersyndroms. Er bezahlte die Ablöse aus dem Bordell, kleidete sie neu ein, zeigte ihr den Teil der Welt, den man mit seinem Einkommen bereisen konnte, und hoffte, sie von den Drogen wegzubekommen, wenn er sie heiratete und mit ihr raus aufs Brandenburgische Land zog. Seine Therapieversuche waren mit dem Tag beendet, an dem er Natascha mit einem privaten Freier aus alten Tagen im Ehebett erwischte.
Hätte der Richter der Mutter damals nicht das Recht zugesprochen, mit ihrem gemeinsamen Kind einmal im Jahr alleine verreisen zu dürfen, wäre Scholle heute vielleicht immer noch der gute Kumpel, dem der wöchentliche Kegelabend wichtiger war als ein abgeschlossener Fall. Scholle war damals nur eine Minute zu spät gekommen. Er hatte auf dem Revier gesessen und überlegt, ob er es wirklich zulassen sollte, dass Natascha und sein Sohn Marcus gemeinsam in den Urlaub nach Moskau flogen. Sicher, die Sorgerechtsvereinbarung war eindeutig, er würde sich strafbar machen, wenn er jetzt zum Flughafen fahren und Natascha daran hindern würde, mit Marcus das Land zu verlassen.
Am Ende hatte sein Bauchgefühl gesiegt. Er war nach Schönefeld gerast, hatte den Dienstwagen im Halteverbot geparkt und war zum Abflugterminal gestürmt. Zu spät. Die Aeroflot-Maschine stand noch auf dem Rollfeld, aber die Türen waren bereits geschlossen. Seit einer Minute. Ein halbes Jahr hatte er sich freigenommen, damit er die Dörfer rund um Jaroslawl nach seinem Jungen absuchen konnte. Ohne Erfolg. Natascha und Marcus waren wie vom russischen Erdboden verschluckt und tauchten nie wieder auf.
Als Scholle mit leeren Händen und zerrissenem Herzen zurückkam, schwor er sich, es niemals wieder so weit kommen zu lassen. Nie wieder würde er auch
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