Der Augensammler
Individuen, die um die Endlichkeit ihres Lebens wissen und daher die kurze Zeit, die ihnen gegeben ist, sinnvoll nutzen werden. Pustekuchen. Die meisten Menschen, die ich kenne, wissen sehr wohl, dass sie im Leben täglich aufs Neue die Chance bekommen, ihre Zeit mit Geldverdienen zu verplempern. Aber sie haben nur eine einzige Chance, den elften Geburtstag ihres Kindes zu feiern. Eine Chance, die ich gerade verpasste.
»Um sieben?«, fragte er mich. Das war die späteste Frühstückszeit, wenn er zur ersten Stunde nicht zu spät kommen wollte, obwohl ich bezweifelte, dass Nicci ihn in diesem Zustand zur Schule gehen lassen würde. »Ich werde kommen«, versprach ich und spürte, dass ich es ernst meinte. »Sieben Uhr. Ehrenwort. Und verzeih mir bitte, dass ich heute Abend nicht da war, als es dir so schlechtging, ja?«
»Kein Problem«, lachte er. »Mama hat mir doch erzählt, dass du den Mann suchst, der die Kinder entführt.«
Ach ja? Hat sie das?
»Das geht schon okay. Das ist jetzt wichtiger.«
Ich war völlig perplex und suchte nach Worten. Bevor ich ihn fragen konnte, was Mami noch über mich erzählt hatte, fing Julian plötzlich an zu husten. Einen Augenblick später war Nicci wieder am Apparat. »Es ist besser, ich bring ihn wieder ins Bett.«
»Danke.«
»Wofür? Ich bin seine Mutter.«
»Ich meine, für das, was du ihm erzählt hast. Ich weiß, du magst meinen Job nicht, und er hat ganz sicher auch dazu beigetragen, dass jetzt ein Graben, größer als die San-Andreas-Spalte, zwischen uns steht. Aber ich bin dir wirklich dankbar, dass du ihn nicht auch noch zwischen Julian und mich treibst.«
Schweigen. Eine Zeitlang hörte ich nur das Rauschen der Blätter vor dem Hausboot und das Knacken des Birkenholzes im Kamin, dann zog Nicci die Nase hoch. »Ach Zorro, es tut mir so leid.«
»Mir auch«, versicherte ich ihr. Dann lud ich ein weiteres Versprechen auf den Berg meiner gebrochenen Vorsätze. »Ich habe Julian gesagt, ich komme um sieben Uhr vorbei. Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam frühstücken?« »Okay.«
»Wir machen ein richtiges Happy-Birthday-Frühstück, so wie früher. Weißt du noch, als ich Julian immer schlafend nach unten trug und er erst vor den Kerzen seiner Torte aufgewacht ist?«
Sie schniefte erneut, und ich spürte, dass ich den Moment der Nähe zwischen uns nicht durch weiteres Gequatsche zerstören sollte, also verabschiedete ich mich. »Bis nachher«, sagte sie, und dann, kurz bevor sie auflegte, stach sie zu. »Du vergisst doch den Donnerstag nicht, oder?«
Sieben Worte. Sieben Messer, die die Blase der Hoffnung zerschnitten.
Donnerstag.
Die Vorbesprechung für die Scheidung. »Nein«, sagte ich und fühlte mich wie der armselige Trottel, der ich wohl war. »Ich werde da sein. Mit meinem Anwalt.«
29. Kapitel
(Noch 4 Stunden und 8 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Alexander Zorbach (Ich)
Zuerst spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Dann den Atem, mit dem ihre Worte auf meinen Nacken trafen. »Darf ich dich etwas fragen?« Alina stand direkt hinter mir. So nah, dass ich mich nicht hätte umdrehen können, ohne sie zu berühren. Aber das wollte ich im Augenblick auch gar nicht. Ich wollte nur noch vor dem Fenster stehen bleiben und in die Dunkelheit des Waldes starren, die so gut zu meiner gegenwärtigen Gefühlslage passte.
»Vielleicht«, antwortete ich und kontrollierte, ob die Verbindung zu Nicci auch tatsächlich unterbrochen war. In meinem Handy lag eine anonymisierte Prepaid-Karte, die Grundausstattung eines Polizeireporters, und dennoch hatte ich Zweifel, ob Stoya mich nicht trotzdem darüber orten konnte. Ich beschloss, dass mir das nun gleichgültig war. Im Augenblick wusste ich ohnehin nicht mehr weiter, und die Option, die folgenden Nächte in Untersuchungshaft zu verbringen, hatte nach dem, was uns heute zugestoßen war, viel von ihrem Schrecken verloren. »Was wir eben erlebt haben ...«, sagte Alina leise. Das in dem Keller ... »Was ... was war das?«
Ich antwortete nicht, obwohl ich wusste, worauf sie hinauswollte.
Alina war gerade im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Bösen in Berührung gekommen. Der Augensammler hatte sein Opfer luftdicht mit Klarsichtfolie umwickelt und so den Verwesungsprozess am lebendigen Leib ausgelöst. Dann, um das Leiden der Unbekannten zu verlängern, hatte er ihren Tod absichtlich verhindert; hatte ihr einen Katheter und andere Zugänge gelegt, mit denen ihre medizinische Notversorgung
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