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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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hatte sich vorgenommen, das Ding so schnell wie möglich zu entrümpeln. Aber ich war schneller.« Sie schluckte.
    Jetzt wird's ernst. Jetzt kommen wir in die rote Zone des Gedächtnisses. Dort, wo die schmerzhaften Erinnerungen vergraben sind.
    »Als wir zum Bauen der Sandburg eine Form brauchten, holte ich uns ein altes Einwegglas aus der Garage. Ich war ein ordentliches Mädchen. Vermutlich ein ordentlicheres, als ich es jetzt bin.« Sie lächelte freudlos. »Auf jeden Fall wollte ich es ausspülen, und das war ein Fehler.« »Wieso?«
    »In dem Glas war Kalziumkarbid, weiß der Geier, wozu der Vorbesitzer das gebraucht hat. Zum Glück gab es eine laute Explosion, sonst hätte meine Mutter den Unfall gar nicht so schnell mitbekommen.«
    Alina blinzelte, als liefe hinter den nun wieder geschlossenen Lidern ein nur für sie sichtbarer Film ab. »Kalziumkarbid und Wasser erzeugen Acetylen, ein giftiges Gas. Wäre der Rettungshubschrauber nicht so schnell zur Stelle gewesen, hätte die Explosion mich getötet. So verlor ich nur mein Augenlicht.« Bei »nur« malte sie imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. »Meine Hornhaut ist zerstört. Irreparabel.« »Das tut mir leid.«
    »Shit happens«, sagte sie lakonisch und presste die Zigarette aus.
    »Das ist schrecklich«, sagte ich leise. Im Alter von drei Jahren. Lange bevor man die Wunder dieser Welt sehen kann. Nur zu verständlich, dass sie verbittert ist.
    »Hast du dir deshalb dieses Hass-Tattoo stechen lassen?« »Hass? Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie verwundert. Dann umspielte ein leises Lächeln ihre Lippen. »Warte mal.«
    Sie stand auf, zog sich die Jacke aus und knöpfte die ersten drei Knöpfe ihrer Bluse auf. »Meinst du das hier?«
    Sie setzte sich wieder zu mir und reckte mir den nackten Hals entgegen. Die runenhaften Buchstaben auf ihrer Haut formten das englische Wort Fate - nicht Hate!

    »Schicksal«, übersetzte ich leise. Die Tätowierung schimmerte wie feuchte Tinte in dem warmen Kerzenschein. Sie lächelte. »Kommt darauf an, wie man es sieht.« Wie man es sieht. Auf Wiedersehen. Einen Augenblick ... Unsere Sprache ist voll von visuellen Redewendungen, und ich fragte mich, ob alle Blinden sie so selbstverständlich benutzten wie Alina. Sie verwunderte mich einmal mehr, als sie mir den Rücken zuwandte. »Sieh noch mal hin!« Erst verstand ich nicht, worauf sie hinauswollte, doch dann, als ich ihr über die Schulter sah, sprang es mich förmlich an.
    »Es ist ein Ambigramm«, sagte ich staunend, wobei ich mir nicht sicher war, ob das tatsächlich die richtige Bezeichnung war. Die Ambigramme, die ich kannte, zum Beispiel aus dem Thriller »Illuminati«, waren symmetrische Graphiken, die man um hundertachtzig Grad kippen konnte und die trotzdem das gleiche Wort ergaben. Einfachstes Beispiel ist die Buchstabenkombination WM. Das Tattoo von Alina jedoch war anders. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wenn man den geschwungenen Schriftzug auf den Kopf stellte, formte sich ein völlig neues Wort mit einer ganz anderen Bedeutung.

    »Luck«, flüsterte ich. »Glück.«
    Sie nickte. »Oder Zufall. Ich ziehe diese Übersetzung vor.«
    Schicksal oder Zufall, dachte ich. Wie im Leben. Es kommt nur auf die Betrachtungsweise an.
    »Es ist ein asymmetrisches Ambigramm, um genau zu sein. Man steht davor, und dennoch erfasst man die Bedeutung nicht auf den ersten Blick, verstehst du? Deshalb habe ich es mir stechen lassen. Unsere Augen sind nicht wichtig. Den Beweis dafür trage ich bis in alle Ewigkeit auf meinem Körper.«
    Ihre großen, trüben Augen waren direkt auf meinen Mund gerichtet. »Ich denke, es kommt nicht darauf an, was wir sehen, sondern nur darauf, was wir erkennen. Das versuche ich mir jedenfalls einzureden. Aber weißt du, was?« Sie blinzelte, doch es war nicht mehr aufzuhalten. Der Damm war gebrochen. Die Tränen strömten ebenso plötzlich wie heftig über ihr Gesicht. »Es funktioniert einfach nicht!« »Alina . «
    Ich griff nach ihrer Hand, die sie sofort zurückzog. Berührte ihre Schulter und rutschte nach, als sie mir vollends den Rücken zudrehte.
    »Ich kann mir noch so oft sagen, dass ich meine Augen nicht brauche«, sagte sie mit erstickter Stimme. Sie zog die Beine an, stellte die Stiefel auf die Couch und presste den Kopf auf die Knie wie ein Flugzeugpassagier, der sich auf den Absturz der Maschine vorbereitet. Oder auf den Absturz seiner Seele. »Dass ich die Welt, in der ich lebe, nicht sehen muss .« Ich versuchte es

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