Der Bastard von Tolosa / Roman
Könige der Franken nichts zu sagen. Man merkt sich nicht einmal ihre Namen. Ludwig der Dicke ist, glaube ich, immer noch König, und obwohl er dem Namen nach oberster Lehnsherr ist, so macht hier jeder, was er will. Dem Land fehlt der mäßigende Einfluss der alten Herrscher. Jeder
castelan
ist sein eigener Herr, jedes Adelshaus steht im Wettkampf mit den anderen großen Familien. Die drei mächtigsten Geschlechter sind die Herzöge von Aquitania im Westen, dann die Grafen von Tolosa, deren Einfluss bis zum Mittelmeer reicht, und schließlich die Grafen von Barcelona im Süden. Dazwischen gibt es viele, unabhängige Barone und kleinere Grafschaften, die sich mal hier, mal dort verbünden oder dem einen oder anderen Herrn die Treue schwören.
In dieser unruhigen Welt zählt selten Gerechtigkeit, umso mehr aber Einfluss und Stärke. Es werden Kriegsknechte verdingt, man übt sich im Gebrauch der Waffen, und immer neue Burgen werden errichtet. Vasallen verbünden sich gegen ihren
dominus,
die Herren selbst lassen es oft an Treue fehlen. Es geht um Macht und Reichtum, um fruchtbare Landstriche, auf denen Wein, Oliven und Schafe gedeihen, um Minen in den Bergen, Mühlen am Fluss, um Zölle an den Handelsstraßen und Umschlagplätzen, um Macht über Klöster und Diözesen und Zugriff auf deren fette Pfründe. Verrat und blutige Fehden sind nicht selten. Diese Habgier der Menschen ist Gottes Rechnung für das schöne, reiche Land, in dem wir leben.
Ich danke Gott auf Knien, dass es mir in den letzten zwanzig Jahren gelungen ist, meinen Besitz aus diesen Wirren herauszuhalten. Aber wie lange noch? Und wenn ich stürbe? Was würde dann aus Rocafort? Diese vermaledeite Angelegenheit, an die ich kaum denken mag,
tal res,
hängt immer noch drohend über uns. Fast hätte es uns damals vernichtet. Mich schauderte, als ob mich die schwarzen Schwingen des Todesengels berührt hätten.
Dabei geht es um nichts Geringeres als um das Erbe des Grafen Guilhem, nun schon seit vierzig Jahren tot. Um die Herrschaft über das reiche Tolosa, das ihm Raimon, der eigene Bruder, geraubt hatte. Um nicht weniger als die Ansprüche dreier mächtiger Fürstenfamilien, Tolosa, Aquitania und Tripolis in Outremer, unter denen der alte Streit um dieses Erbe jederzeit neu entflammen könnte. Was würden sie tun, wenn sie von Guilhems geheimem Testament erführen, dessen Inhalt ein Feuer in der ganzen Region entfachen könnte, wenn er bekannt würde. Würden sie nicht jede Spur eines vierten Erbanspruchs mit Schwert oder Gift zu unterdrücken suchen? Und das verdammte Ding liegt immer noch in meiner Obhut! Das Vermächtnis der mächtigsten Familie des Südens versteckt auf einer kleinen Burg mit einem alten Mann als Wächter. Zum Lachen, eigentlich.
Nicht zu vergessen das Gold. Auch dies würde sie anziehen wie Kuhfladen die Fliegen, wenn nur jemand davon wüsste. Denn Graf Guilhems Kriegshort liegt hier vergraben. Mein Onkel Odo, ehemals Erzbischof von Narbona und Graf Guilhems langjähriger Vertrauter, hatte Testament und Gold vor Raimons Zugriff hier versteckt. Tolosaner Gold.
Über all diese Dinge habe ich seitdem geschwiegen, denn meines ist ein gefährliches Wissen. Allerdings, in letzter Zeit ist mir schmerzlich bewusst geworden, dass ich mit meinen fünfundfünfzig Wintern langsam alt werde. Auch wenn ich es mir ungern eingestehe, aber in Wahrheit schmerzt das Knie beim Treppensteigen, und nach langem Ritt habe ich’s im Kreuz. Ich schlafe schlecht und wache in der Nacht auf, weil mich die Blase drückt. Nachher wälze ich mich missmutig auf dem Lager und warte auf den ersten Hahnenschrei. Der bedrückende Gedanke an Alter und Tod hat sich in mein Leben geschlichen, eine neue und wenig angenehme Erfahrung.
Die zunehmende Dämmerung breitete ihre Schatten über die Landschaft. Wie jeden Abend in diesen Jahren blickte ich grübelnd auf mein Land und wünschte, mein Sohn Raol wäre an meiner Seite. Ich erinnerte mich an seinen Blick, als er, nicht älter als sechzehn, sich von mir abgewandt und davongeritten war. Liebe hatte ich ihm schenken wollen, aber in Wahrheit war nur Hass und Unverständnis zwischen uns gewesen. Auch er war, wie sein Vater, vor der Wirklichkeit ins Abenteuer geflohen und hatte dann vergessen, heimzukehren. Wusste er nicht, dass ich ungeduldig auf ihn wartete, schon seit über zwanzig Jahren? Dass er lebte, davon war ich überzeugt, und irgendwann würde er wiederkommen, so hoffte ich jedenfalls und sehnte mir diesen Tag
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