Der Baum des Lebens
vierzig breit«, sagte Iker.
»Davon hab ich noch nie gehört. Ich glaube, du erzählst mir dummes Zeug!«
»Da müsste ich mich aber sehr täuschen.«
»Worauf du dich verlassen kannst! Gefährte des Windes… Wenn es je so ein Schiff gegeben hätte, wüsste ich davon – da kannst du sicher sein! Aber was hältst du davon, ein wenig Ordnung in meinen Schriftkram zu bringen? Bei der Steuer kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Den Auftrag erledigte Iker zur vollsten Zufriedenheit seines Gastgebers.
Und so ging die Reise im Rhythmus der Esel weiter, und Iker ließ sich den Dörrfisch und die Zwiebeln schmecken, die man ihm im Gegenzug für seine Arbeit anbot.
Trotz der vielen Fragen, die ihm durch den Kopf gingen, genoss Iker den Augenblick, als die Karawane endlich den Wüstenpfad verließ und zu einer grünen Palmenlandschaft gelangte. Vergessen waren das gefährliche Meer und die bedrohlichen Berge! Auf gut bewässerten Feldern ernteten Bauern Gemüse.
»Sag mal, mein Junge, willst du nicht vielleicht für mich arbeiten?«, fragte ihn der Kaufmann.
»Nein, danke für das Angebot, aber ich möchte zurück zu meinem Lehrer und weiter den Beruf des Schreibers erlernen«, antwortete ihm Iker.
»Na ja, das kann ich schon verstehen! Man verdient zwar nicht besonders viel, aber man ist angesehen. Dann wünsche ich dir viel Glück, mein Junge.«
In tiefen Zügen genoss Iker die frische Luft und die angenehme Frühlingswärme. Weil er es nicht erwarten konnte, in sein Dorf zu kommen, lief er beinahe über die Wege, auf denen er in seiner Kindheit so viel herumgerannt war, bis er sich dann zurückgezogen und in die heitere Gelassenheit dieser Landschaft versenkt hatte. Obwohl Iker eigentlich schon gern mit seinen Kameraden gespielt hätte, dachte er doch lieber über die Geheimnisse der Welt und die unsichtbaren Mächte nach.
Medamud war ein Dorf aus kleinen weißen Häusern, die im Schatten von Akazien, Palmen und Tamarinden auf einem Hügel standen. Am Brunnen beim Dorfeingang stand ein Wächter, der glaubte, ein Gespenst sei vor ihm aufgetaucht.
»Das ist doch nicht… Bist du etwa Iker?«, fragte ihn der Mann fassungslos.
»Ja, natürlich, ich bin’s.«
»Das gibt’s doch nicht, Iker… Was ist dir denn passiert?«
»Oh, nichts Besonderes«, antwortete Iker vage.
Er wusste, wie gern der Wächter tratschte, und wollte seine Abenteuer lieber seinem Lehrer anvertrauen.
»Du solltest aber besser gleich wieder verschwinden!«
»Wieder verschwinden, aber warum denn? Ich will nach Hause und weiterlernen!«
Als er sah, wie entrüstet Iker reagierte, hakte der Wächter nicht mehr nach.
Beunruhigt eilte Iker zu dem Haus des alten Schreibers, der ihn aufgenommen und ausgebildet hatte. Unterwegs begegnete er einigen Kindern, die bei seinem Anblick das Spiel mit ihren Stoffpuppen unterbrachen, und Frauen, die Körbe auf dem Kopf trugen und misstrauischen Blicks stehen blieben.
Die Tür war verschlossen, die Fenster mit Latten vernagelt.
Iker klopfte und klopfte.
»Das hat keinen Sinn«, meinte die Nachbarin. »Der alte Schreiber ist tot.«
Für Iker brach eine Welt zusammen. »Er ist tot… Seit wann denn schon?«, fragte er die Frau.
»Seit einer Woche. Er war einfach zu traurig darüber, dass du weggegangen bist.«
Iker sank auf die Türschwelle und begann zu weinen.
Als ihn die Piraten entführten, hatten sie damit seinen Pflegevater getötet.
»Geh zum Dorfvorsteher«, riet ihm die Nachbarin. »Er kann dir mehr dazu sagen.«
Trotz seines Kummers spürte Iker die Feindseligkeit, die ihm das ganze Dorf entgegenbrachte. Alle schienen ihn dafür verantwortlich zu machen, dass sein Meister gestorben war.
Zum ersten Mal spürte Iker, wie unerträglich weh es tat, ungerecht behandelt zu werden. Aber er würde alles aufklären, und dann würde der Schmerz verschwinden.
Tief betrübt ging Iker zum Haus des Dorfvorstehers, der gerade Kanalbauarbeitern einige Anweisungen erteilte.
»Nanu, ich könnte schwören… Das ist doch unser Schreiberlehrling! Bist du es wirklich? So eine Überraschung! Ich hätte wetten können, dass wir dich nicht Wiedersehen«, sagte der beleibte Fünfzigjährige mit bissiger Ironie in der Stimme. Dann schickte er seine Arbeiter unfreundlich weg.
»Du bist schuld daran, dass dein Beschützer vor Kummer gestorben ist, Iker. Das ist ein Verbrechen, für das du dich vor den Göttern wirst verantworten müssen. Wenn ich könnte, würde ich dich dafür ins Gefängnis
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