Der Beethoven-Fluch
es ihrem Lehrmeister zu präsentieren, dass sie sogar eigens hinaus nach Baden geritten war, wo Beethoven gerade zur Kur weilte.
“Schwer zu sagen”, meinte Beethoven, nachdem er gut ein halbes Dutzend Zugaben gefordert hatte, “ob Sie das komponiert haben oder die Musik Sie.” Ohne weitere Erklärung trat er an seinen Geschirrschrank, nahm das in weiches Wildleder gehüllte Bündel heraus, schlug es auf und enthüllte die vergilbte, uralte Knochenflöte. Dass er sie mit nach Baden bringen würde, das hätte Margaux nicht gedacht.
“Mir scheint, ihre kleine Melodie passt ganz gut zu einer Flöte …” Er beantwortete ihre Frage, bevor sie diese stellen konnte, brachte die Flöte an die Lippen und spielte die ersten drei Töne – jedoch so zögerlich, als habe er Angst, sie könnten jeden Moment eine Katastrophe auslösen. Als diese ausblieb, spielte er den nächsten Takt und dann den folgenden, achtzehn Noten insgesamt. Er probierte es noch einmal, diesmal aber so, dass er die ganze Melodie von Anfang bis Ende ohne Absetzen durchspielte. Schließlich nahm er die Flöte herunter und wandte sich an Margaux. “Nichts passiert”, sagte er niedergeschlagen. Plötzlich merkte er, dass sie still weinte. “Was haben Sie?”, fragte er. “Was ist?”
Aber sie konnte es ihm nicht sagen, konnte nicht sprechen, denn sie erinnerte sich. Erinnerte sich an etwas, das sie schon halb vergessen oder auch nie gekannt hatte.
Inzwischen brauste die Musik machtvoll in ihrem Inneren, schwoll abermals an zu einem tosenden Crescendo, das Bilder mit sich brachte von anderen Zeiten, anderen Orten, die ihr nichts sagten. Von einer Welt so völlig anders als jedes Land Europas, das sie jemals bereist hatte.
Margaux erblickte eine heiße Sonne und einen breiten Fluss. Mit einem Gefühl abgrundtiefer Trauer sah sie zahlreiche Frauen, die sich um ein loderndes Feuer versammelt hatten, allesamt weinend und in wallenden Gewändern. Im Hintergrund ragten turmhohe Berge auf.
Dann verblasste die Szene, und Margaux sah wieder Beethoven, der sie mit einem besorgten Blick musterte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie der Sonnenschein durch das Fenster fiel. Es hatte etwas Bedeutendes, das Licht, als wolle es ihr etwas zeigen. Sie folgte einem der Sonnenstrahlen, in dem die Staubteilchen tanzten. Wissen lag in diesem Licht, in langen Jahren gewonnene Erkenntnis, gebündelt in der Kraft, die Margaux jetzt durchströmte. Dringender als die Luft zum Atmen brauchte sie ihren Mann, damit sie ihm berichten konnte, was seiner Entdeckung an Erstaunlichem innewohnte und welche Macht sie besaß. Sie musste ihn unbedingt einweihen in diese quälende und doch unsagbar schöne Wahrheit über den Kreislauf von Licht und Zeit und Wiederholung, darüber, wer wir Menschen sind und warum wir hier weilen.
“Was ist mit Ihnen, Margaux?”, forschte Beethoven. “Wieso nimmt die Musik Sie so mit?”
Nach wie vor vom Licht umfangen, brachte sie immer noch kein Wort über die Lippen. Schwebend auf den Schwingungen jener misstönenden Weise, die Beethoven der uralten Flöte entlockt hatte, reiste sie mit ihren Erinnerungen – weit, weit zurück in der Zeit.
52. KAPITEL
T al des Indus, Indien – 2120 vor Christus
Leichenfledderei war schon ein Verbrechen, Leichenraub dagegen ein Frevel. Ohanas Verzweiflung aber war größer als die Furcht vor den Strafen. Daher versteckte sie sich, während die Sonne den Fluss wie Feuer aufflammen ließ, hinter einem Baumstamm. Sie schirmte die Augen vor den blendenden Strahlen mit der Hand ab und harrte auf das Ende des Totenfests.
Selbst das Getöse aus Geplätscher, Glockengebimmel und Muhen vermochte die jammernde Trauerklage der Witwe nicht zu übertönen – schmerzliche Mahnung für Ohana, dass sie kein Recht hatte, bei Devadas’ Verbrennungszeremonie zugegen zu sein. Mahnung auch, dass sie sich in ihrem Leid an niemanden wenden durfte. Dass ihre Trauer das letzte einer ganzen Reihe von Geheimnissen war, die es fortan zu hüten galt.
Am Tage zuvor hatten zwei Männer auf dem Weg zum Morgengebet die Leiche von Ohanas Liebstem am Flussufer gefunden. Fliegen surrten bereits um das Haupt des Toten, angelockt durch das aus klaffenden Kopfwunden sickernde Blut. Außer Devadas’ Bruder Rasul, der als Einziger von den gesetzgebenden Gewalten eine Verfolgung der Tat forderte, interessierte sich offenbar niemand für die Frage, wer der Mörder war oder wie man seiner habhaft werden konnte. Die beiden Brüder waren
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