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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.J. Rose
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einen letzten Besuch, der in zwei Tagen erfolgen würde. Dann würden die Frauen zurückkehren, um die abgekühlten Knochen aus dem Feuerofen zu bergen und zu bestatten.
    Im Schutze der Dämmerung huschte Ohana heran an den Sami-Baum und fasste in den dort hängenden Behälter. Eine spröde Masse – das war alles, was übrig geblieben war von ihrem Liebsten. Als sie die Hand zurückzog, hielt sie genau das umschlossen, weswegen sie hergekommen war. Glatt und bleich, ja gleichsam glimmend, schimmerte das Gebein im Abendlicht. Den Knochen fest an die Brust gepresst, als könne er zu ihr sprechen, sie retten, ihr Zuspruch spenden, stahl sich Ohana davon in die einsame Nacht.

53. KAPITEL
    E r sah alle diese Gestalten und Gesichter in tausend Beziehungen zueinander, jede der andern helfend, sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu gebärend, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich schmerzliches Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch, jede verwandelte sich nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein neues Gesicht, ohne dass doch zwischen einem und dem anderen Gesicht Zeit gelegen wäre.
    – Hermann Hesse, Siddhartha –
    Baden bei Wien, Österreich
    Dienstag, 29. April – 16:20 Uhr
    Meer saß am Flügel in Beethovens Wohnung. Die Finger auf den Tasten, spürte sie noch die Schwingungen der Töne. Zwar war ihr furchtbar kalt, doch angesichts ihrer Bemühungen, das eben Geschehene zu begreifen, war ihr das einerlei. Wie in einer Schleife war die Zeit einfach zu sich selber zurückgekehrt, und das zwei Mal. Erst hatte Meer hier als Margaux gesessen, an jenem Tag, an dem Margaux erstmals die Flötenmusik vernahm und sich darin auflöste. Und dann die Reise in jene graue Vorzeit! Hatte sie da etwa soeben nicht nur einen Blick in
ein
Vorleben erhascht, sondern gleich in zwei? Zwei, die Jahrhunderte auseinanderlagen?
    Musik hatte zwar als Auslöser fungiert, doch an die eigentliche Melodie konnte sich Meer nicht erinnern. Nur an das Gefühl.
    “Was ich da eben gespielt habe”, fragte sie Sebastian, “haben Sie das erkannt?”
    Er sah sie verdutzt an. “Sie haben doch gar nicht gespielt! Jedenfalls nichts, was irgendwie melodisch gewesen wäre. Nur drei Mal das C angeschlagen und dann mit geschlossenen Augen dagesessen. Eine gute halbe Minute lang.”
    “Doch, natürlich habe ich gespielt! Ich hab’s doch gehört!”
    Er wehrte kopfschüttelnd ab. “Bloß das C. Aber Sie zittern ja wie Espenlaub! Warten Sie, ich hole Ihnen …”
    Margaux hatte doch die Melodie der untergegangenen Erinnerungen gefunden! Und davon ausreichend Töne auf dem Klavier angeschlagen, dass Beethoven die Tonfolge erkannte und die Melodie für Margaux auf der uralten Knochenflöte spielte. Sie hatte funktioniert, hatte Margaux’ Gedächtnis so stimuliert, dass sie sich an eine noch ältere Geschichte erinnerte – eine von einem innig geliebten, später ermordeten Mann, von dessen eingeäscherten Überresten sie einen Knochen geraubt hatte.
    “Warum lügen Sie?”
    “Meer, Sie haben nichts gespielt! Ich würde Sie nicht belügen! Überlegen Sie doch nur, was die Erinnerungsmelodie für mich bedeuten könnte! Für meinen Sohn!”
    Die Kälte ging ihr durch und durch. Meer stand auf, wand sich an Sebastian vorbei und anschließend auch an der Ticketverkäuferin. Mit derselben absonderlichen Entschlossenheit, die sie bereits zuvor am Flügel verspürt hatte, schritt sie über den Flur, als würde sie sich hier in den Räumlichkeiten ganz genau auskennen. Die winzige Schlafkammer enthielt ein schmales Bett mit einer dünnen, kaffeebraunen Decke, eine Kommode, eine Waschschüssel und einen an einem Kleiderhaken hängenden Paletot. Ohne das geringste Zögern hob Meer den schweren Wollmantel vom Haken und zog ihn über. Das grobe Kleidungsstück war warm, warm genug gegen das Zittern, das Meer trotz des sonnigen Wetters überwältigte.
    Als sie die Hände in die Manteltaschen stopfte, ertastete sie in der linken ein kleines Loch. Sie fasste den Mantelzipfel und klappte den Stoff von innen nach außen, sodass sie mit den Fingern an den unteren Saum gelangte, wo eine Münze zwischen Mantelfutter und Oberstoff steckte. Sie lächelte stillvergnügt. Dauernd, so fuhr es ihr durch den Kopf, fielen die Groschen durch das Loch in der Tasche! Doch diesmal klemmte da noch etwas anderes im Futter. Eine spitze Schreibfeder, noch mit getrockneter Tinte daran.
    Was fällt dir eigentlich ein, Beethovens Mantel anzuziehen?
Wenn

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