Der Beethoven-Fluch
zu einem Tisch, an dem ein junges, Ohrhörer tragendes Mädchen die Eintrittskarten verkaufte und dabei zu seiner Lieblingsmusik rhythmisch den Kopf bewegte. Wie im Wiener Beethovenhaus gab es so gut wie keine Sicherheitsüberprüfung; die ganze Gedenkstätte wurde von übertrieben locker wirkenden Studenten geführt. Klänge einer wunderschönen Beethoven-Sonate erfüllten den Raum, und während Sebastian die Eintrittskarten erstand, fragte sich Meer, welchem Kontrastprogramm die junge Verkäuferin wohl gerade lauschte.
Dann stand Meer auf der Schwelle zum ersten Zimmer mit Beethovens Flügel darin. Zum Fenster ausgerichtet, dominierte das Instrument den ganzen Raum. Das Mahagoniholz schimmerte in der Spätnachmittagssonne. Meer benötigte fünf Schritte: Zögernd und unschlüssig zuerst, doch dann immer energischer werdend, ging sie auf den Flügel zu und setzte sich auf die Klavierbank.
Ob sie mit ihrem Tun auffiel oder nicht, interessierte sie nicht. Sollte das junge Ding ruhig herüberkommen und sie zurechtweisen; dann würde sie eben aufstehen. Hier bot sich jedenfalls eine einmalige Gelegenheit: Auf einem von Beethovens persönlichen Flügeln zu spielen, zu erleben, wie Musik für den großen Komponisten klang, als er noch hören konnte – diese Chance durfte Meer sich nicht entgehen lassen.
Sie zog die Schutzhaube von der Klaviatur, setzte die Fingerspitzen auf die vergilbten Elfenbeintasten und schlug die ersten Akkorde der Mondscheinsonate an. Offenbar hatte man das Instrument regelmäßig gestimmt; überrascht stellte Meer fest, wie anders sich dieser zweihundert Jahre alte Flügel im Vergleich zu den von ihr gewohnten Instrumenten spielte. Der Anschlag war kraftvoller und zugleich lyrischer, weniger kontrolliert, fast ohne Nachklang; es kam ihr vor, als biete sich ihr ein viel größeres Spektrum an Klangentfaltung, Tonfülle und Dynamik.
Als die Sonate verklungen war, ließ Meer die Finger noch einige Zeit improvisierend über die Tasten gleiten.
Auf einmal war ihr, als bewegten sich ihre Finger wie von selber, als spiele die Musik von ganz allein, als sauge sie die Luft aus dem Zimmer, ja aus Meers Lungen. Sie tauchten ab und schwangen sich wieder empor, die Töne, schmachtend und tröstend und erregend, und Meer, sie schwebte gleichsam hinauf in einen nächtlichen Himmel, hin zu den Sternen, getragen auf den Schwingen dieser Klänge, auf den Noten dieses Liedes. Es war die Melodie – dieselbe Melodie, die sie bereits zeit ihres Lebens hörte, jedoch nie hatte fassen können.
“Was ist das?”, fragte Beethoven. “Was spielen Sie da?”
Der Maestro saß ganz dicht neben dem Klavier, das Ohr unmittelbar am Korpus. An manchen Tagen konnte er die Töne nur hören, indem er gewissermaßen in das Instrument hineinkroch.
“Weiß ich selber nicht so richtig. Es ist nur ein Fragment. Ich bin nicht einmal sicher, ob etwas daraus wird. Ist mir so in den Sinn gekommen.”
Er lächelte. “Ja, so ist das manchmal. Als wäre man ein Schallrohr für die Musik der Planeten. So, und jetzt noch einmal”, befahl er.
Sie gehorchte. Inzwischen an seine Art gewöhnt, ließ sie sich von seiner Bärbeißigkeit nicht mehr aus dem Konzept bringen. Sie fand es regelrecht befreiend, hier zu sein, Beethoven vorzuspielen, darauf zu warten, dass die Musik sie innerlich zur Ruhe brachte. Hätte sie nur nicht über so vieles nachdenken, so vieles planen und bewerkstelligen müssen! Der Zar war am Kauf ihres Schatzes zwar interessiert, doch würde er auch so lange in Wien bleiben, bis sie den Mut aufbrachte, Beethoven die Kostbarkeit zu stehlen? Was hinderte sie eigentlich noch daran? Nun, zum einen hatte der russische Herrscher, als sie ihm von der möglichen Existenz einer Melodie der untergegangenen Erinnerungen berichtete, das Dreifache dessen geboten, was sie von Major Wells bekäme. Was aber würde der unternehmen, wenn er erfuhr, dass sie die Flöte nicht ihm, sondern jemand anderem verkaufen wollte? Zum anderen war da noch Toller. Wenn der Wind von ihrem Vorhaben bekäme und die Flöte zurückforderte – was dann? Woher sollte sie dann das Geld nehmen, um die Rettungsexpedition für Caspar zu finanzieren?
Nachdem sie die Melodie zu Ende gespielt hatte, forderte Beethoven sie auf, es noch ein drittes Mal zum Besten zu geben. Es war eine sonderbare Komposition, einfach und atonal bis hin zum Dissonanten, aber es war ihr schon am Morgen beim Aufwachen im Kopfe herumgegeistert. Es hatte ihr so sehr daran gelegen,
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