Der Beethoven-Fluch
wissen, was sie wohl tun sollte, falls sie tatsächlich etwas fand – oder wie sie es unbemerkt aufheben würde. Aber das alles tat sowieso nichts zur Sache: Es war nichts da. Nicht ein Fitzelchen. Das Blatt musste sich wohl im Regen vollkommen aufgelöst haben – und mit ihm auch die allerletzte Hoffnung auf jene so schwer fassbaren Klänge, die Meer nun schon beinahe ihr ganzes Leben lang verfolgten.
58. KAPITEL
D ienstag, 29. April – 19:50 Uhr
Während der Befragung durch einen sanftmütigen Kriminalbeamten in der Badener Polizeiwache erwähnten weder Meer noch Sebastian das entdeckte Notenblatt. Sebastian improvisierte und sagte aus, sie seien auf Beethovens Spuren im Wienerwald gewandert und dabei überfallen worden. Zum Beweis zückte er seine Brieftasche und behauptete, der Räuber habe ihm über einhundertfünfzig Euro Bargeld abgenommen und ihm zusätzlich noch den goldenen Siegelring von der rechten Hand gezogen.
Nach einer Stunde sprach ihnen der ermittelnde Beamte in aller Form sein Bedauern aus für das Malheur, das den beiden in seiner Stadt widerfahren war, und damit waren sie entlassen. Er fügte noch hinzu, man werde sich melden, falls die geraubten Wertsachen auftauchen sollten.
Wieder im Auto, betätigte Sebastian die Türverriegelung und blieb dann einen Moment reglos sitzen, als müsse er sich vor dem Anlassen des Motors zunächst sammeln. Erst als sie den Stadtkern hinter sich gelassen hatten, ergriff er das Wort, und das auch nur leise und mit zerknirschter Stimme. “Ich fühle mich verantwortlich für das, was da heute Abend passiert ist. Ich kann nur sagen, es tut mir aufrichtig leid. Wie konnte ich bloß so leichtsinnig sein? Nach den ganzen Vorfällen der letzten Zeit? Sie schweben in schrecklicher Gefahr, Meer. Sie müssen auf der Hut sein! Wir alle müssen uns vorsehen.”
“Ich hab’s nicht ausreichend ernst genommen, aber vorhin in der Stadt, da hatte ich das Gefühl, als würden wir observiert.”
“Offenbar ist uns jemand von Wien aus gefolgt.” Sebastian massierte sich die Schläfe.
“Ist Ihnen nicht gut?”
“Ich glaube, ich habe mir beim Hinfallen den Kopf gestoßen.” Er winkte ab. “Die Hauptsache ist: Beethoven hat die Noten damals versteckt, und Sie haben sie gefunden. Nicht durch Zufall oder aus Versehen, sondern weil Sie genau wussten, wo das Blatt war. Vermutlich wissen Sie auch, wo sich die Flöte befindet.”
Meer schüttelte abwehrend den Kopf. “Nein.”
“Nicht bewusst, natürlich. Aber es kann nicht anders sein.”
Doch genau das wollte Meer nicht wahrhaben. Es war schwer, zu akzeptieren, dass sie sich jetzt nicht an etwas erinnern konnte, was sie eigentlich nie hatte vergessen können – dieses ganze verfluchte Rätsel, das ihr Leben so geprägt hatte. “Ach, was! Die Flöte könnte überall sein!”
“Keineswegs. Inzwischen leuchtet mir auch der Hinweis in dem Beethoven-Brief ein:
Ich habe sie unserem Herrn und Heiland anvertraut, der unsere Liebe geheiligt und gesegnet hat.
Das liegt doch auf der Hand! Die kleine Kapelle im Wienerwald – das war einer von Beethovens Treffpunkten mit Antonie. Den Schlüssel hat Beethoven in der Herzgruft versteckt und einen Hinweis darauf in dem Schreiben hinterlassen. Was schließen wir daraus? Es muss auch einen Hinweis auf das Versteck der Flöte geben!”
Sein Handy klingelte. Den Inhalt des nachfolgenden Dialogs verstand Meer zwar nicht, aber der angespannte Ton in seiner Stimme, der fiel ihr gleichwohl auf.
“Meinem Sohn geht es nicht gut”, teilte er ihr nach Beendigung des Gespräches mit. Dabei krampfte er die Finger dermaßen ums Lenkrad, dass die Knöchel ganz weiß hervortraten. “Lungenentzündung. An sich schon für jedermann eine gefährliche Sache, aber erst recht für ihn, weil man so schlecht zu ihm durchdringt. Ich fahre Sie noch zum Hotel und dann …”
“Liegt die Klinik nicht sowieso an der Strecke nach Wien? Da kann ich doch mitkommen und von dort ein Taxi nehmen.”
“Nein”, sagte Sebastian, “auf direktem Weg liegt der Steinhof nicht, im Gegenteil. Aber Sie können gern mitkommen.”
Sie bogen auf die Autobahn Richtung Wien. Ein Blick auf den Tachometer verriet Meer, dass Sebastian ziemlich schnell fuhr, an die hundertdreißig Stundenkilometer. Aber es war wohl verständlich, dass er es eilig hatte. Dann allerdings begann es wieder zu regnen. Anfangs klatschten bloß einige Tropfen auf die Frontscheibe, kein Problem für die Scheibenwischer. Mit der Zeit indes
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