Der Beethoven-Fluch
zwischen den Bäumen den Schein einer Taschenlampe. Der Mann mit der Waffe! Nun hatte er sie doch noch aufgespürt!
Hektisch nach einem Versteck Ausschau haltend, entdeckte sie im Halbdunkel etwas, das wie ein großes Gebüsch aussah. Konnte man da wohl hineinkriechen? Geräuschlos sogar? Und sich hinter den Zweigen verbergen?
Langsam robbte sie durch den Schlamm vorwärts. Sie achtete genau darauf, dass kein Reisig am Boden lag, dessen Knacken sie womöglich verraten hätte. Dann hörte sie ein Geräusch, das so klang, als rufe jemand ihren Namen! In der Bewegung innehaltend, spitzte sie angestrengt die Ohren und spähte durchs Geäst.
“Meer?” Es war Sebastian, begleitet von einer Gruppe Polizisten. Sie waren auf der Suche nach ihr!
Sobald die Beamten sich vergewissert hatten, dass sie keiner medizinischen Hilfe bedurfte, boten sie ihr an, sie bis zum Bahnhof zu bringen. Somit hätte man sie befragen können, während andere Kollegen den Tatort sicherten. Meer indes bestand darauf, mit den Polizisten wieder hinauf zur Hütte zu steigen. Sebastian, der sich nicht abwimmeln ließ, begleitete sie.
Dies war ihre einzige Chance, noch nach letzten Resten der Melodie zu forschen – nach jener Musik, der sie nun schon zeit ihres Lebens nachjagte. Die sie wie durch ein Wunder gefunden und nur Minuten später wieder verloren hatte.
Auf dem Marsch durch den tropfnassen Wald tauschten sich Meer und Sebastian über das soeben Geschehene aus. Die Polizei, berichtete er, ging davon aus, dass man ihn wohl mit Chloroform außer Gefecht gesetzt hatte, denn er erinnerte sich lediglich daran, wie er im Regen am Boden liegend zu sich gekommen war. Einigermaßen wieder bei Kräften, hatte er sich sodann auf die Suche nach Meer begeben und sich schließlich hinunter in die Stadt und letztlich zur Polizeiwache durchgeschlagen.
“Nach Ihnen gesucht habe ich lieber nicht”, erklärte er. “Ich hatte Angst, ich wäre womöglich immerzu im Kreis herumgeirrt und hätte Sie verfehlt. Hat der Kerl die Noten mitgenommen?”
“Die Noten nicht – höchstens eine Handvoll Papiermüll.”
“Dann haben Sie sie also noch?”
“Es waren ja bloß noch vereinzelte Noten lesbar, und auch die ohne Zusammenhang. Sie sind im Regen dann völlig verwischt.”
“Aber vorher haben Sie die doch gesehen, oder? Die Noten?”
“Da gab es nicht mehr viel zu sehen. Außerdem ging alles so schnell, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Aber eventuell klemmen noch ein paar Fetzen Papier oben hinter dem Kruzifix. Deshalb muss ich ja zurück. Um nachzugucken, ob überhaupt noch irgendetwas übrig ist. Falls die Polizei das erst einmal beschlagnahmt, sehen wir es womöglich nie wieder. Alles, was ich meinem Vater vorlegen und von ihm datieren lassen könnte, ist vielleicht noch brauchbar. Es gibt bestimmt Infrarot-Techniken, mit denen man verblasste Tintenreste wieder lesbar machen kann.”
An der Hütte angelangt, sperrten die Polizisten den Tatort mit Trassierband ab. Die alte Kapelle mit ihren verblichenen Gipsstatuen, sie
durfte
keine Sackgasse sein, die Musik nicht auf immer verloren! Doch Meer konnte sich jetzt nicht mehr davon überzeugen, ob noch etwas übrig war.
Was nun? Ihr Vater, der sein Leben lang nach verborgenen Thorarollen gejagt hatte – was hätte er wohl jetzt getan? Er hatte ihr einmal erzählt, dass selbst er immer an einen Punkt kam, an dem ihm die Hinweise ausgingen. An dem er sich gänzlich verloren fühlte, sich auf seinen Glauben verließ. Genau in jenen Augenblicken, in denen er am liebsten lauthals geflucht hätte, zwang er sich, zu beten – um sich daran zu erinnern, dass alles seinen Grund hatte. In diesen Gebeten fand Jeremy dann die Stärke, um weiterzumachen.
Meer hatte noch nie gebetet. Aber das brauchte ja niemand zu erfahren. Es wusste auch keiner, dass sie Jüdin war und deshalb beim Beten nicht unbedingt niederknien musste. Nun aber ging sie, ohne die Polizisten zu fragen, einfach hinüber zum Kruzifix und ließ sich mit gesenktem Haupt davor auf die Knie sinken. So konnte sie nach Papierfetzen Ausschau halten, ohne dass es jemandem auffiel.
“Miss Logan …”, begann einer der Polizisten, offenbar der Einsatzleiter.
Sie hob nicht einmal den Kopf, sondern hoffte nur, dass man ihr diesen Augenblick stiller Anbetung gönnte.
Auf dem Steinfußboden schmerzten ihr die ohnehin vom Sturz zerschundenen Knie, doch trotzdem verharrte sie wie erstarrt, den Blick zu Boden geheftet und ohne selber zu
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