Der Beethoven-Fluch
düstere Grünlich-Blau der Kiefernzweige, die ihren Schatten auf die Hütte warfen. “Margaux … sie hat ihm geholfen … Sie half Beethoven … beim Verstecken der Flöte und der Noten. Etwas davon könnte sie hier vergraben haben.”
55. KAPITEL
B aden bei Wien, Österreich
18. Oktober 1814
Mit flottem Schritt eilte Beethoven den Gehweg zu den außerhalb des Hotels liegenden Gartenanlagen hinauf, in der Hand ein Notenblatt, das er beim Gehen und Sprechen andauernd aus- und wieder zusammenrollte. Seine Ausdauer versetzte Margaux in Erstaunen; sie wusste doch von seinen chronischen Kopfmerzen und Unterleibsbeschwerden. In letzter Zeit hatte er oft über Müdigkeit und Erschöpfung geklagt.
“Ich habe vieles komponiert, auf das ich stolz sein kann. Doch da war ich noch jung an Jahren. Inzwischen ist mir klar, wie viel mehr die Musik selbst bewirken muss. Ich habe vieles geopfert, ja sogar einen Handel mit meinem Herrgott abgeschlossen: Nämlich allen weltlichen Reichtümern, einem Eheweib und Kindern zu entsagen, wenn ich dafür nur weiter schöpferisch tätig sein darf. Ich meinerseits habe meinen Teil der Abmachung eingehalten, der liebe Gott den seinen jedoch nicht. Der Schaffenskampf ist nicht leichter geworden – im Gegenteil: Mir werden mehr und mehr Knüppel zwischen die Beine geworfen. Und nun kommen Sie mir auch noch mit dieser aus Ihren Träumen geborenen Teufelsmusik, die solch gefährliche Visionen hervorruft … Die kann ich doch unmöglich auf die Welt loslassen! Das darf ich nicht!”
Sie berührte ihn am Arm, damit er sie anschaute und ihr von den Lippen ablesen konnte. “Wohin gehen wir?”
“Ich muss nachdenken.”
“Wozu haben Sie die Noten mitgebracht? Sie haben doch nichts damit vor, oder?”
Er ignorierte die Frage. Margaux hatte alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie war beunruhigt. Zwar war es ihm gelungen, die gesamte Tonfolge der Melodie der untergegangenen Erinnerungen zu ermitteln, doch sie selber konnte sich nur an die ersten drei Töne entsinnen.
Nach Durchqueren der Gartenanlagen stiegen sie weiter hügelan in den Wald hinein. Als sie dann an die kleine Kapelle mit dem Kruzifix, dem provisorischen Steinaltar und den Standbildern von Maria und Josef gelangten, befanden sie sich bereits mitten im tiefsten Forst.
Im Inneren der Kapelle, vor dem Wind geschützt, entrollte Beethoven das Notenblatt und überflog es noch einmal. “Ich weiß nicht, was ich mit dieser überirdischen Musik anfangen soll”, brummte er. Noch immer studierte er das Blatt, als ohne jede Vorwarnung ein Gewitter losbrach. Ein heftiger Windstoß trieb eine Regenböe herein, die das Notenblatt durchweichte und die Tinte zum Verlaufen brachte.
“Stecken Sie es unter den Mantel!”, schrie Margaux und wies vorsichtshalber auf seine Manteltasche. Sie wusste ja nicht, ob er sie bei dem Donnergetöse überhaupt hören konnte. Aber er schaute sie gar nicht an, sondern ließ nur suchend den Blick schweifen. Mit einem Male rollte er das Notenblatt zu einem schmalen Röhrchen zusammen und klemmte es in den Spalt zwischen Christusfigur und Holzkreuz.
“Zumindest bis morgen ist es hier sicher”, rief er Margaux zu, die unter einem neuerlichen Donnerschlag zusammenzuckte. Als ein Blitz den Wald aufleuchten ließ, war ihr, als sähe sie durch den strömenden Regen eine Gestalt, die sie dort draußen beobachtete. Aber ganz sicher war sie sich nicht.
War das vielleicht Schindler, Beethovens Sekretär? War der ihnen hierher gefolgt? Oder war es Toller?
Nein, sie war gar nicht mehr in der Vergangenheit. Sie war auch nicht mehr Margaux.
Vor Meer stand ein dunkel maskierter Mann, eine Pistole im Anschlag.
56. KAPITEL
B aden bei Wien, Österreich
Dienstag, 29. April – 17:39 Uhr
Der Mann mit der Waffe trug eine dunkle Regenjacke und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Vor Entsetzen wie gelähmt, brachte Meer keinen Ton hervor. Hektisch hielt sie Ausschau nach Sebastian … und sah ihn am Boden liegen – bewegungslos, hinter dem Altar, unter dem Kruzifix.
“Sie haben hier oben etwas gefunden!”, knurrte der Bewaffnete heiser in schwerfälligem Englisch. “Her damit! Sonst ergeht es Ihnen wie Ihrem Freund da drüben!” Er sprach zwar mit starkem deutschem Akzent, doch sie verstand jede Silbe.
“Was haben Sie mit ihm gemacht?”
“Ihre Freunde, Ihr Vater … Wir können dieses Spiel gern fortsetzen. Dann müssen eben die leiden, die Ihnen nahestehen – bis wir kriegen, was wir
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