Der Beethoven-Fluch
hatte sie zwar nie gesehen, doch als sie die Augen genauer betrachtete, da war ihr, als sähe sie sich selbst. Als blickte sie tief in ihre eigene Seele.
107. KAPITEL
T al des Indus, Indien – 2120 vor Christus
Ohana schreckte aus dem Schlaf hoch. Über ihr Lager gebeugt stand ihr Vater, bemüht, ihr den Knochen zu entwinden.
“Was fällt dir ein!”, blaffte er durch die gebleckten Zähne. “Schon schlimm genug, dass du dich ihm wie eine Hure an den Hals geworfen hast, als er noch lebte. Aber dies? Seine Überreste zu stehlen?” Seine Augen glitzerten böse.
Ohana hatte ihn schon des Öfteren in seinem Zorn erlebt; er war ein strenger Vater. Jetzt aber stand ihm die kalte Wut ins Gesicht geschrieben.
“Bitte!”, flehte sie. “Gib ihn mir zurück!”
Er krallte die Finger um das bleiche Knochenstück. “Nichts da”, knurrte er, so außer sich, dass ihm der Speichel von den Lippen troff. “Du bringst Unheil über dein Haupt und über mein Haus!” Damit wandte er sich ab und hastete zur Kammer hinaus.
Mit einem Satz von ihrer Bettstatt herunter, stürzte Ohana ihm nach. Sie holte ihn vor dem Haus ein, packte den Knochen. Vater und Tochter rangelten eine Weile; dann siegte die Körperkraft, der Vater schwang das bleiche Stück wie einen Prügel und holte aus, als wolle er zuschlagen. In seinem Blick stand die blanke Abscheu.
Sie hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, doch wer ihren Liebsten umgebracht haben könnte, das war Ohana bislang ein Rätsel geblieben. Jetzt aber durchfuhr sie schlagartig ein so grausiger Gedanke, dass ihr regelrecht übel wurde. Tränen der Scham traten ihr in die Augen. Nicht etwa aus Zerknirschung ob ihres ruchlosen Tuns mit Devadas, sondern weil sie womöglich durch ebendieses Tun seinen Tod herbeigeführt hatte.
“Hast
du
ihn erschlagen?”, würgte sie erstickt hervor.
Durch die Wucht des Handstreichs rückwärts geschleudert, verlor sie das Gleichgewicht, stürzte zu Boden und schürfte sich die Handflächen an den scharfen Kieseln auf. Ein stechender Schmerz zuckte ihr durch den Rücken.
Ihr Vater blickte auf sie herab, die Lippen verächtlich zu einem dünnen Strich verzogen. “Was erdreistest du dich, in diesem Ton mit mir zu reden? Ab ins Haus, auf der Stelle!”
Dass sie dem Vater den Gehorsam verweigerte, war ihr einerlei. Mit einem Satz auf den Beinen, riss sie den Knochen ihres toten Liebsten an sich und rannte fort, verfolgt vom eigenen Vater. Selbst als er aufgab, lief sie weiter, hin zu dem einzigen Ort, der ihr Schutz versprach.
108. KAPITEL
W ien, Österreich
Freitag, 2. Mai – 12:15 Uhr
Sonnenstrahlen blitzten durch das frische Laub auf dem verwilderten jüdischen Friedhof und zauberten goldene Tupfer auf Meers Gesicht und Hände. Sie stand abseits unter einem hohen Kastanienbaum und verfolgte, wie sich die Trauergäste nach und nach einfanden. Darunter waren auch jene neun Männer, die noch in der vorigen Woche beim Begräbnis von Ruth, Jeremys Haushälterin, das jüdische Totengebet gesungen hatten – zusammen mit Meers Vater.
Heute hatten sie sich auf dem Wiener Zentralfriedhof versammelt, um über seiner Asche zu beten. Eigentlich war es den orthodoxen Juden verboten, sich einäschern zu lassen. Jeremy hatte es jedoch in seinem Testament so verfügt, und spät am Abend zuvor hatte der Rabbi sein Einverständnis gegeben.
“Ehe ich die heutige Zeremonie beginne”, ließ Rabbi Tischenkel sich vernehmen, “möchte ich Ihnen den letzten Wunsch Ihres Vaters zur Kenntnis geben.” Mit dem Kopf wies er auf das Silbergefäß, das er in den Händen hielt. “Er bat darum, dass nur die Hälfte seiner Asche hier beigesetzt werden möge. Die andere Hälfte sollen Sie, Meer, in den Ganges streuen.” Der Rabbi hielt kurz inne und setzte neu an.
Meer kam ihm zuvor. “In den Ganges?”
“Ja, diese Frage habe ich ihm auch gestellt.” Der Rabbi lächelte wehmütig. “Er sagte mir, es gebe Glaubensvorstellungen aus grauer Vorzeit, und die besagen Folgendes: Wird die Asche eines Verstorbenen dem Ganges übergeben, so überspringt der Tote eventuell einige Wiedergeburten und spart dadurch Zeit. Eine Abkürzung sozusagen.”
Die Sonnenstrahlen fielen plötzlich durch die Blätter, brachen sich an der Urne und blendeten Meer.
“Ihr Vater”, sprach Tischenkel weiter, “trug mir ferner auf, Ihnen zu sagen, sie sollten sich wegen der Flöte nicht zu sehr grämen.”
Meer war, als gebe ihr der verstorbene Vater über die Zeit hinweg seinen Segen
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