Der Beethoven-Fluch
Schleifen sowie einem kunstvoll in das Muster eingeflochtenen Buchstaben. Ein Kind hätte vermutlich nur Schwünge und Bögen gesehen, doch als Erwachsene erkannte Meer mühelos, dass es sich um ein großes, kursives
B
handelte.
“So, nun wissen wir zumindest, dass es die Schachtel wirklich gab”, erwiderte sie rasch mit gleichmütiger Stimme, wobei sie das Blatt auf den Tisch legte. “Folglich muss ich sie vorher mal gesehen haben, irgendwo, irgendwie, bevor ich irgendwelche kognitiven Erinnerungen daran hatte. Vielleicht hat meine Mutter mal ein Buch mit Antiquitäten durchgeblättert, und darin war ein Bild von diesem Kästchen. Oder ich hab’s bei einer Versteigerung gesehen. Zu Auktionen hat sie mich ja andauernd mitgeschleppt.” Unbehaglich rutschte sie etwas auf ihrem Stuhl zurück – weg von der Zeichnung, weg von Malachai.
In jedermanns Leben gibt es bestimmte Scheidegrenzen. Meer wusste, die tiefsten davon prägen uns am allermeisten. Aber so, wie man die Erdoberfläche am leichtesten aus der Vogelperspektive erkennt, sieht man auch diese Lebensfurchen am deutlichsten erst mit dem Abstand der Jahre. Nur dann lässt sich der Moment bestimmen, in dem aus einem kleinen Riss ein Bruch geworden ist und aus diesem Bruch eine Grenzlinie.
Meer war sieben Jahre alt, als sie die seltsame Musik erstmals vernahm und ihren Eltern von dem Kästchen sowie der Verfolgungsjagd im Wald berichtete. Zuvor war sie ein völlig unbeschwertes Kind gewesen. Danach traute sie sich kaum mehr, nach links oder rechts zu gucken – aus lauter Furcht, sie könne ein sich anbahnendes Unheil voraussehen. Vorher wäre sie nie darauf gekommen, die Versprechungen ihrer Eltern anzuzweifeln. Nachher wurde ihr klar, dass die im Flüsterton geäußerten Beruhigungen keinerlei Gewicht hatten.
“Begreifen Sie denn nicht? Dies könnte der Beweis dafür sein, dass Sie all die Jahre Vorlebenserinnerungen hatten!” Malachais tiefschwarze Augen glänzten. Als er noch einmal nach der Katalogseite griff, fiel Meer die Hemdmanschette auf, die aus dem Ärmel des maßgeschneiderten Anzugs hervorblitzte. Die Initialen
MS
waren eingestickt – weiß auf weiß.
Vor Meer saß ein Wissenschaftler, der in Oxford studiert hatte, der Aristoteles, Einstein und C. G. Jung zitierte, der gern mit seiner bis ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Spielkartensammlung angab und eine bedeutende Abhandlung über die Psychologie des viktorianischen Englands und dessen Vorliebe für das Übersinnliche verfasst hatte. Wenn
er
über Regressionstheorien dozierte, kam man nie auf übersinnlichen Hokuspokus oder Hellseherinnen hinter Glasperlenvorhängen. Stattdessen verlieh er der Vorstellung von Seelenwanderungen wissenschaftliche Durchschlagskraft, sodass es einem schwerfiel, seine Ausführungen als Unsinn abzutun.
Nichtsdestotrotz: Das, was er oder ihr Vater glaubten, konnte Meer nicht nachvollziehen. In jüngeren Jahren, ja, da hatte sie es gewollt, hatte es auch versucht und sich sogar als Versuchskaninchen hergegeben. Doch es war den beiden nie gelungen, ihre Theorien zu ihrer Zufriedenheit zu beweisen. Der Vertrauensvorschuss, den sie erwarteten, war zu groß. Wie ihre Mutter neigte auch Meer eher zum Pragmatismus.
“Laut Beschreibung handelt es sich bei der Schatulle um eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Spielekassette”, las Malachai laut vor. “Sie gehörte einer gewissen Antonie Brentano, einer Bekannten von Beethoven.”
Meer spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Zahnschmerzen setzten ein, Schultern und Kinnpartie verkrampften, ein Frösteln lief ihr über den Rücken. Sie hörte etwas wie aus der Ferne, weit weg, aber deutlich. Im hinteren Lendenbereich, dort, wo sie sich einmal mit neun Jahren einen Wirbel angeknackst hatte, puckerte die sichelförmige Narbe. Schlagartig wurde ihr flau. Und wenngleich sie kein Kind mehr war, sondern eine Frau von einunddreißig Jahren, wäre sie am liebsten aufgesprungen und davongelaufen.
Fortgelaufen war sie auch damals, an jenem Tag, auf der Flucht vor der geisterhaften Musik. Sie jagte Meer Angst ein, diese Musik. Denn sie ging stets einer Erinnerung an eine gespenstische Hetzjagd durch den Wald voraus. Für ihre Eltern wurde die Sache regelrecht zur Zwangsneurose. Der Tochter mehr und mehr entfremdet, stritten sie sich ständig darüber, was ihr wohl am besten helfen würde. Die endlosen Termine bei unterschiedlichen Ärzten wirkten sich auf den Schulbesuch aus, behinderten Meer in ihrer
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