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Anthony Carmine Orlando hatte einen großen runden Kopf, weißes welliges Haar, flinke grüne Augen und eine Nase, die zu klein für sein Gesicht schien. Ich hätte ihn überall erkannt. Er hatte sich am Kofferband platziert und hielt ein Schild in der Hand, auf dem in riesigen schwarzen Lettern »Alex Orlando« prangte. Als ich hallo sagte, verengte er die Augen und wollte zuerst meinen Zweitnamen hören. »Rockangela«, erwiderte ich ein wenig verlegen. Er seufzte und griff nach meinem Koffer. »In dieser Stadt kann man niemandem trauen.«
Er hatte Recht, wie sich sehr bald zeigen würde.
Onkel Carmi umarmte mich fest; sein Kugelbauch war prall und hart wie ein Medizinball. Er nahm mein Gesicht in beide Hände und meinte, wie hübsch ich sei: genau wie seine Schwester Nin - nur ohne den Schnurrbart.
Ich sollte wohl erklären, warum ich mich mitten im Januar auf dem JFK-Flughafen mit einem Verwandten traf, den ich kaum kannte. Der Grund war, dass ich aus meinem bisherigen Trott ausbrechen wollte. Im reifen Alter von achtundzwanzig Jahren hatte ich das Gefühl, auf der
Stelle zu treten. Ich hatte sechseinhalb Jahre damit verbracht, mich auf dem College mit irgendwelchen Abschlüssen und komplizierten Theorien abzuplagen. Nur um dann schließlich bei Neimann Marcus Klamotten zu sortieren. Danach ging ich als »Guru« des Textes in die Werbung - als das arme Schwein, das dafür bezahlt wird, sich unglaublich überzeugende Slogans für die Etiketten billiger T-Shirts auszudenken (»Soft and Shiny« - das war mein Spruch). Ich wollte den Kram gerade hinschmeißen, als man mir die Kündigung überreichte. Ich sei nicht teamfähig, sagte mein Chef. Ich erwiderte, er irre sich; ich könne nur mit seinem Team nichts anfangen.
Meine Abfindung verpulverte ich auf einem Europatrip. In Berlin stieß ich auf Jan, einen abgeklärten Edelstein-Händler aus Antwerpen. Ich hatte immer schon etwas für Ausländer übrig gehabt; sie waren eben nicht von hier. Als ich schließlich - abgebrannt und unruhig - nach Kalifornien zurückkehrte, fühlte ich mich selbst wie eine Ausländerin. Ich blieb ein paar Monate bei meinen Eltern auf ihrer Ranch in der Ebene von Sacramento. Ich ging zu Bewerbungsgesprächen. Ich ließ mir von verschiedenen Unis Infomaterial über Jura kommen - irgendwie erschien mir das sinnvoll. Ich verabredete mich sogar ein paar Mal mit einem Zahnarzt, den mir meine Eltern ans Herz gelegt hatten. Aber hauptsächlich hing ich lustlos herum. Als also der Anruf aus Manhattan kam, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe: Onkel Carmi wollte auf seine jährliche Winterpilgerfahrt nach Puerto Rico gehen (man munkelte, er habe dort eine »Freundin«) und suchte verzweifelt einen vertrauenswürdigen House-Sitter. Selbst meine Eltern fanden die Idee, dass ich diese Aufgabe übernehmen würde, gut. Wer hätte gedacht, dass diese an sich harmlose Arbeit ein so hohes Berufsrisiko in sich bergen würde.
Was in jenem Winter geschah, raubt mir immer noch manchmal den Schlaf. Es gehört in die Kategorie der Erlebnisse, die ich wirklich niemandem wünsche. Es sollte sich herausstellen, dass Jan ein noch fremdartigerer Ausländer war, als ich mir je hätte träumen lassen. Mein ältester Freund Kyle wurde zu jemandem, den ich kaum wieder erkannte. Mein Nachbar Christian verließ ganz unerwartet die Stadt. Und ich? Man sollte meinen, dass dieses Chaos, über das ich schreiben will, mir die Augen geöffnet hätte. Und vielleicht hat es das ja auch. Allerdings nicht in dem läuternden Sinne, der immer in diesen Selbsthilfebüchern propagiert wird. Immerhin wurde ich von meiner Vorliebe für Ausländer kuriert - na ja, wenigstens fast. Inzwischen bin ich mit einem Amerikaner zusammen. Aber er ist Polizist, und das finde ich immer noch befremdlich genug.
Wir holten meine Koffer vom laufenden Band und stiegen in einen feudalen Lincoln, den Carmi gebucht hatte, um mich abzuholen. Er bellte dem Turban-Träger am Steuer zu, wo er hinzufahren habe, während ich mein Gesicht an die kühle Fensterscheibe presste, um einen Blick auf Queens zu erhaschen. Auf dem Long Island Expressway sah ich in der Ferne Manhattan wie einen funkelnden Vergnügungspark aufragen, ein Gebirge von rechteckigen Schachteln, die im Licht badeten. Der Anblick war so schön, dass ich einen Moment brauchte, um zu begreifen, dass die Stadt echt war.
Carmi hatte eine Zwei-Zimmer-Mietwohnung auf der Twenty-third Street in Chelsea - er lebte dort seit fünfunddreißig
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