Der Beethoven-Fluch
Inhalt der Seiten überhaupt wahrzunehmen. Ihr schwirrte noch der Kopf von lauter Eindrücken; für weitere blieb da gar kein Platz mehr. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren voller schockierender Ereignisse gewesen – voller Erinnerungen, die sie zwar wie ihre eigenen empfand. Aber das waren sie nicht, konnten sie nicht sein. Genau das war nämlich das Tückische an Pseudoerinnerungen: dass sie im Gewand von wahren Erinnerungen daherkamen.
Als die Reihe an Meer kam, beschränkte sich der Arzt auf eine kurze Untersuchung und versicherte ihr sowie hinterher auch ihrem im Wartezimmer verbliebenen Vater, dass die schillernden Blutergüsse am linken Arm und an der Hüfte nicht so schlimm seien.
“Jeremy”, sagte Dr. Kreishold zu ihm, “soll ich Sie nicht vorsichtshalber auch schnell durchchecken?”
“Sie sind mir viel zu gewissenhaft. Mir geht’s blendend.”
Der Doktor ließ nicht locker. “Nur eine ganz kurze Untersuchung …”
Jeremy fiel ihm ins Wort. “Sobald mir etwas wehtut, komme ich wieder und lasse mich verarzten. Ehrenwort.”
“Los, Dad”, drängte nun auch Meer. “Stell dich nicht so an!”
Jeremy gab ihr einen Kuss auf die Stirn. “Mir fehlt nichts, keine Bange, mein Schatz. Man hat mich schon nach dem Überfall in der Schweiz im Krankenhaus auf den Kopf gestellt. Alles in Ordnung.”
Als sie die Praxis verließen und in den dunklen Flur traten, berichtete Jeremy seiner Tochter, dass die Sekretärin von Malachai Samuels angerufen hatte. “Sie hat ihn ebenfalls im Sacher einquartiert. Und falls du nicht zu müde bist, würde er sich gern um sechs mit dir in der Lobby treffen. Dann könnt ihr zwei ja zu mir kommen, und wir essen gemeinsam in aller Ruhe zu Abend. Also”, fügte er hinzu, “am besten legst du dich noch etwas hin und ruhst dich aus.”
“Wir wollten doch jetzt zur Beerdigung deiner Haushälterin”, wandte Meer ein, ohne auf die väterliche Besorgnis einzugehen.
“Wie schon gesagt, du brauchst dich nicht verpflichtet zu fühlen.”
“Ich würde aber gerne teilnehmen. Schon deinetwegen.” Meer hielt einen Moment inne. “Ihr Tod hat mit meinem Kommen zu tun, stimmt’s?”
Jeremy drückte schon wieder heftig auf den Liftknopf – zwei Mal nacheinander. “Ach, was! Wieso solltest du …”
“Wenn es keine Verbindung gäbe zwischen mir und der Kassette – wärst du dann auch so interessiert daran gewesen? Sonst bist du doch auf alte Thorarollen, siebenarmige Leuchter, Haggada-Bücher und Weinkelche aus. Aber eine Spieleschatulle von 1814? Das ist doch kein jüdisches Kultobjekt!”
Ächzend stoppte der Aufzug auf der gewünschten Etage; langsam glitten die Türen auseinander.
“Das Ganze hat erheblich größere Dimensionen, als du ahnst, Liebling.”
“Und ich werde es auch nie verstehen, wenn du es mir nicht erklärst.”
“Da ist was dran.” Ihr Vater nickte und wandte den Blick ab.
Auf dem Weg zum Wagen berichtete Jeremy seiner Tochter die ganze Geschichte von Beginn an, angefangen mit dem Anruf von Helen Hoffmann. Ungeachtet ihrer Verwirrung fand Meer die detaillierten, mit unterhaltsamen Schlenkern gespickten Schilderungen ihres Vaters so spannend wie eh und je. Schlagartig fiel ihr ein, wie er früher abends an ihrem Bett saß und ihr von seinem neuesten Abenteuer erzählte. Dann übertönte er mit seiner Stimme jene Stille, die Meer so hasste und fürchtete, denn genau in den stummen Intervallen zwischen den Worten meldeten sich jene beklemmenden Erinnerungen und jene geisterhafte Musik, die sie nie richtig zu greifen bekam und auch nie richtig begriff. Menschen seines Schlages, die begaben sich eben nicht einfach auf Schatzsuche – nein, sie holten sich ihr Erbe zurück. “Das schulden wir dem Andenken an jene, die vor uns waren – dass wir entdecken, was sie uns hinterließen”, hatte er Meer einmal gesagt, und zwar mit Stolz in der Stimme, wie ihr nicht entgangen war. Sie hatte ihren Vater immer geliebt, aber am liebsten war er ihr, wenn er von seiner Arbeit erzählte.
Jeremy manövrierte den Wagen aus der Parklücke und fädelte sich an der nächsten Ecke in den Verkehr ein, der sich im Schneckentempo vorwärtsbewegte. Und während Meer ihrem Vater lauschte, der nun beschrieb, wie er das Spielkästchen zum ersten Mal erblickte, entfaltete sich vor ihr wieder eine andere Seite der Stadt.
“Ich war wie vor den Kopf geschlagen!”, rief er. “Du kannst dir sicher vorstellen, wie bizarr das sein muss: Da spaziert man bei jemand
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