Der Beethoven-Fluch
außerordentlich gepflegt und distinguiert. Einladend wies er auf eine Sitzgruppe, und alle drei nahmen auf Clubsesseln aus edlem spanischem Leder Platz. Brecht wandte sich gleich wieder an Meer. “Hatten Sie denn noch Gelegenheit, einen Blick auf die Spieleschatulle zu werfen, ehe sie entwendet wurde?”, fragte er ohne Umschweife.
“Nur wenige Minuten.”
“Kam Ihnen am Aussehen irgendetwas außergewöhnlich vor?”
“Wie meinen Sie das?”
“Haben Sie eine Reaktion verspürt beim Anblick?”
Wie vielen Menschen mochte ihr Vater von ihrer Bindung zu der Schatulle erzählt haben? Wem außer Sebastian Otto und Brecht wohl noch? Hatten die alle da gehockt und Wetten darauf abgeschlossen, ob das Kästchen bei ihr Vorlebenserinnerungen auslösen werde oder nicht? Sie sah hinüber zu ihrem Vater, aber der bemerkte ihren vorwurfsvollen Blick nicht oder wich ihm lieber aus.
“Es ging alles zu schnell”, erwiderte sie, an Brecht gewandt.
Er stellte ihr eine weitere Frage, doch sie hörte nicht hin. Je länger sie hier saß, desto elender fühlte sie sich. Das Atmen fiel ihr schwer, und ihr war furchtbar kalt. Brecht, der anscheinend ihr Unbehagen spürte, unterbrach sich mitten im Satz und entschuldigte sich. “Wie kann ich nur? Es war ein strapaziöser Morgen für Sie, und ich komme daher und unterziehe Sie hier einem Verhör! Darf ich Sie zu einem Imbiss einladen?”
“Nein, danke …”
“Einen Kaffee? Tee?”
“Einen Tee, ja”, sagte sie. Etwas Heißes würde ihr helfen, bei der Sache zu bleiben.
“Für Sie auch, Jeremy, oder?”, fragte Brecht.
“Du siehst ziemlich mitgenommen aus”, bemerkte Jeremy, nachdem Brecht zur Küche gegangen war.
Meer stieß ein säuerliches Lachen aus. “Das ist doch wohl kein Wunder, oder? Bitte, Dad! Hör auf damit!”
Es war beklemmend … der Saal an sich kam ihr vertraut vor, doch gleichzeitig stimmte manches nicht. Wie in Beethovens Wohnung war die Beleuchtung viel zu hell, und es roch auch nicht nach Paraffin oder Räucherstäbchen. Am allerschlimmsten waren die Melancholie und ein unsagbar starkes, überwältigendes Sehnen. Dies war Caspars Welt.
“Was ist los, Meer? Nun sag schon!”
Sie hätte es nicht erklären können, also gab sie keine Antwort.
“Tee bringt jetzt nichts. Du brauchst sofort ein Glas Wasser.”
Meer streckte die Hand aus, schon kurz davor, ihren Vater zu bitten, sie nicht allein zu lassen. Allerdings wusste sie, dass sie sich damit nur noch weiteren Fragen ausgesetzt hätte, auf die sie keine Antworten parat hatte. Also ließ sie die zittrige Hand wieder in den Schoß sinken. Egal was passierte – Malachai hatte ihr beigebracht, wie sie damit umgehen musste. Indem sie die Finger wie auf einer unsichtbaren Klaviatur bewegte, versuchte sie sich an einer komplizierten Passage aus Rachmaninows “Rhapsodie über ein Thema von Paganini”, das bei ihr keine Gefühlsregungen auslöste. Im Allgemeinen erforderte diese Etüde dermaßen viel Konzentration, dass es jede Angstattacke überlagerte. Heute Nachmittag jedoch funktionierte es nicht. Es gelang Meer nicht, sich auf ihren Fingersatz zu konzentrieren, denn eine andere Musik beanspruchte ihre Aufmerksamkeit und verstärkte ihre Trauer noch. Alte Musik … vertraute Klänge … und genau in dem Moment, als es so aussah, als könne sie die Töne endlich greifen … da entglitten sie ihr erneut, ließen sich wieder einmal nicht fassen.
“So, Ihr Tee”, sagte Brecht und reichte ihr eine dampfende Tasse.
35. KAPITEL
P asohlávky/Weißstätten, Tschechische Republik
Montag, 28. April – 14:00 Uhr
Nach dem Tanken schloss David den Mietwagen ab und ging in den kleinen Tankstellenladen, um seine Rechnung zu bezahlen und sich einen Kaffee zu holen. Auch er musste auftanken. Der Stress und seine Albträume hielten ihn so gut wie jede Nacht wach, sodass er am Nachmittag meistens fix und fertig war. Der Kaffee war heiß und bitter; David schlürfte ihn wie Medizin, direkt am Straßenrand, hinter dem Steuer sitzend. Ein Kaffee – auch das etwas, das früher ein Genuss und mittlerweile bedeutungslos geworden war. Wann hatte er das letzte Mal echte Freude empfunden?
Vor der Geburtstagsfeier.
Er schmeckte Blut. Offenbar hatte er sich in die Wange gebissen.
Nachdem er ausgetrunken hatte, öffnete David den Rucksack, holte das in Geschenkfolie gehüllte Paket mit den Geburtstagskuchen darauf heraus. Er legte es vor dem Beifahrersitz auf den Wagenboden und inspizierte bedächtig und
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