Der Beethoven-Fluch
Auktionshaus fahren und dort fragen, ob jemand weiß, wo mein Vater ist. Könnten Sie mich dorthin bringen?”
Die schmale Straße vor dem Haus war mit Einsatzfahrzeugen vollgestopft, und es dauerte einige Minuten, bis Sebastian Otto seinen Mini aus der Parklücke manövriert hatte.
Am Ende der Straßenzeile angelangt, blickte Meer zurück. “Kannten Sie die Frau?”
“Nur vom Grüßen, wenn sie mir aufmachte. Oder vom Dankeschön, wenn sie mal Tee servierte oder das Essen auftrug.”
“Wie hieß sie denn?”
“Ruth … äh …” Er geriet ins Stocken. “Der Nachname fällt mir nicht ein.”
Meer betrachtete seine Hände am Lenkrad, die feinen blonden Härchen auf dem Handrücken, die schlanken Finger, die deutlich wie ein Relief hervorstehenden Adern. Wie kam es, dass sie sich diesem Mann, den sie doch bis heute nie gesehen hatte, so vertraut fühlte? Sonst eher menschenscheu veranlagt und jeglichem Small Talk abgeneigt, war ihr diese spontane Sympathie zu einem Unbekannten eigentlich fremd. Aber genau so ließ sich diese Reaktion auf Sebastian Otto beschreiben – als hätten sie dieselben trügerischen, düsteren Gefilde gemeinsam durchquert.
“Sie waren ja schon öfter im Haus meines Vaters”, fuhr sie fort. “Können Sie sagen, ob irgendetwas gestohlen wurde? Natürlich”, setzte sie hastig hinzu, “ist nichts so kostbar wie ein Menschenleben, klar. Ich wollte nicht …”
“Schon gut. Ich weiß, dass Sie kein herzloser Mensch sind.” Sein Englisch war zwar flüssig, aber sein Akzent erschwerte das Verständnis doch ein wenig.
“Woher wollen Sie das wissen?”
“Ich hätte es Ihren Augen angesehen.”
“Das geht doch gar nicht”, sagte sie. Den Schmerz in seinen Augen hätte sie anderenfalls nur schwer ertragen.
Er nahm den Blick von der Fahrbahn und sah Meer an. Der Blickkontakt machte sie ganz nervös.
“Verzeihen Sie”, murmelte er.
Sie konnte nicht recht erkennen, wofür er sich da entschuldigte. Weil er sie in eine peinliche Lage gebracht hatte? Weil sie so unverblümt miteinander redeten? Wenn man sich das erste Mal traf, sprach man ja normalerweise nicht so freimütig miteinander, auch nicht in einer solchen Ausnahmesituation.
Während er den Wagen durch den Straßenverkehr lenkte, schaute Meer sich die Gegend an. Der Wohnbezirk ihres Vaters ging mehr und mehr in ein Geschäftsviertel über, wo Gegenwart und Vergangenheit sich mischten. Wenn hin und wieder eine Leuchtreklame oder ein bekanntes Firmenlogo an einem Gebäude prangte, änderte dies nichts an dem Gefühl, dass die Geschichte hier buchstäblich lebendig wurde.
Aus dem Autoradio ertönte leise Beethovens 6. Sinfonie. Allerdings stimmte etwas nicht mit dem Klang, als würden zwei unterschiedliche Aufnahmen gleichzeitig abgespielt, eine davon etwas langsamer als die andere. Die daraus resultierenden Überlappungen führten zu Dissonanzen, die das ganze Stück verdarben.
“Würde es Ihnen etwas ausmachen, das abzustellen?”, bat Meer, wobei sie die Seitenscheibe herunterdrehte und sich vom Fahrtwind die Wangen kühlen ließ.
Er schaltete die Anlage aus. “Ist Ihnen nicht gut?”
“Doch, doch.”
Er zögerte. “Ihr Vater hat es mir gesagt”, murmelte er dann.
“Gesagt? Was denn?”
“Das mit Ihrer Kindheit. Ihre Erinnerungen. Dass Sie immer Musik hörten, aber sich nie erinnern konnten. Der Unfall. Dass Sie sich einen Wirbel gebrochen haben und beinahe gelähmt worden wären. Was für ein Trauma das für Sie war.”
Meer fühlte sich auf eine bislang unbekannte Weise bloßgestellt. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.
Sebastian entschuldigte sich noch einmal, als könne er ihre Gedanken lesen. “Sie dürfen das nicht missverstehen. Er hat es mir nur deshalb erzählt, weil mein Sohn Nicolas momentan einiges erleiden muss.”
“Wie alt ist er?”
“Fast zehn.”
“Und was ist mit ihm?”
“Zuerst …” Sebastian zuckte unsicher die Schultern. “Wir wissen es nicht. Nach Ansicht von etlichen Ärzten ist körperlich mit ihm alles in Ordnung. Meine Exfrau ist Psychologin; sie vermutet einen psychotischen Schub, aber da bin ich anderer Meinung. Inzwischen.”
Meer ahnte, was nun kommen würde. Am liebsten hätte sie ihn gebeten, sie damit zu verschonen. Sie wollte nicht schon wieder von einem Kind hören, das so verloren war wie sie in ihrer Kindheit, das unter denselben Rätseln, derselben Vereinsamung litt wie sie damals. Aber da hatte Sebastian schon angefangen.
“Durch
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