Der Beethoven-Fluch
fühlte sich kalt an – so kalt, wie es Meer kurz zuvor noch gewesen war. Nein, kälter noch. War sie tot?
Der verstimmte Gongschlag der Türglocke riss sie aus ihrer Erstarrung. Dann hörte sie eine tiefe Männerstimme und ein zweifaches “Hello?” mit deutschem Akzent.
Es war nicht die Stimme ihres Vaters.
11. KAPITEL
G enf, Schweiz
Samstag, 26. April – 10:00 Uhr
“Dass du mir den Originalbrief bringst, rechne ich dir hoch an”, sagte Dr. Karl Schmettering. Über seinen Arbeitstisch gebeugt, überflog er das Pergament mit dem krakeligen, in etwas verblasster schwarzer Tinte geschriebenen Manuskript darauf.
“Die Qualität der Kopie war fast perfekt”, wandte Jeremy bedauernd ein.
“Trotzdem war es nur eine Reproduktion. Das macht dir doch sonst nichts aus. Wieso jetzt?”
“Hast du nicht mitgekriegt, was letzten Monat bei Sotheby’s in London abgelaufen ist? Der Austausch, nur Tage vor einem Verkauf? Eine gefälschte Unterschrift, verkauft für Tausende. Kein Mensch weiß, wie’s passieren konnte, aber es hat uns alle noch vorsichtiger gemacht. Und erst gestern ist etwas über diesen Brief an die Tribune durchgesickert …”
“Das hast du mir nicht erzählt. Wie kam es dazu?”
“Wer vertrauliche Angaben mit Nachrichtenwert hat, bestimmt den Preis. Ich habe die Informationen im Auktionshaus selber ins System eingegeben. Das ist zwar kennwortgeschützt, aber irgendjemand muss sich durchs Zugangsprotokoll gemogelt haben, um an meinen Bericht heranzukommen. Das war nicht das erste Mal. Ich dachte allerdings, wir hätten eine neue Firewall, bei der so etwas nicht mehr vorkommen könnte.”
“Technik!”, knurrte Schmettering verächtlich.
“Schon, aber Datenschutz ist uns heilig. Wir sind unseren Kunden Diskretion schuldig.”
“Also, entschuldige, doch mit einer Kopie zu arbeiten, das ist, als schaue man sich eine Fotografie an statt das echte Gemälde. Die Antworten, nach denen ich suche, liegen in den Nuancen.” Der Experte legte den Brief unter ein Mikroskop und betrachtete die einzelnen Buchstaben. “Ich muss mir nicht nur die Handschrift angucken, sondern auch, wie gerade die Zeilen sind, wie die Tinte ins Papier dringt, der Druck der Feder, ob es Kleckse oder Risse im Papier gab. Hinweise, Jeremy, all das sind Hinweise.”
“Das weiß ich. Dennoch: Mit einem Original zu reisen, ist riskant.” Deshalb war er auch mit dem Auto hergekommen statt mit dem Flugzeug. Mit dem Dokument, aber ohne Waffe unterwegs zu sein, das ging nicht.
“Für einen Wissenschaftler warst du immer sehr mutig. Was ist los? Ein Brief Beethovens an Antonie Brentano ist zweifellos ein atemberaubender Fund, aber das allein erklärt dein Verhalten nicht. Da muss doch noch mehr sein.”
“Nach der Lektüre des Schreibens wirst du es verstehen.”
“Ist es so wertvoll, dass man dafür jemanden umbringen würde?”
“Wir beide wissen, dass schon für weniger gemordet wird.”
Schmettering schob das Mikroskop beiseite und las den Brief. Danach blickte er Jeremy an, schüttelte leicht den Kopf und seufzte, als hätte sich gerade eine Last auf seine Schultern gelegt. Wortlos beugte er sich noch einmal über den Bogen, doch diesmal las er nicht von links nach rechts dem Satzbau folgend, sondern von rechts nach links, und auch nicht von oben nach unten, sondern umgekehrt. Für einen Gutachter war es entscheidend, die Wörter außerhalb des Kontexts zu überprüfen, denn zuweilen fielen durch einen Perspektivwechsel Ungereimtheiten besser auf.
Jeremy begann, im Zimmer auf und ab zu gehen und sich gründlich umzusehen. In den vielen Jahren, in denen er den “Meister” – so nannte er Schmettering – nun schon aufsuchte, hatte sich dieses saubere, spartanisch eingerichtete Bauhaus-zimmer nicht verändert. Nicht ein einziges Gemälde, keine einzige Pflanze waren hinzugekommen. Auf dem naturfarbenen Holztisch standen nur zwei Gegenstände: ein schwarzes Mikroskop und eine elegante schwarze Halogenleuchte mit sechs unterschiedlichen Helligkeitsstufen. Das andere Handwerkszeug befand sich in Schubladen.
Obwohl inzwischen schon über eine halbe Stunde mit dem Brief beschäftigt, hatte Schmettering bisher noch kein Urteil abgegeben. Einmal mehr stellte Jeremy mit Verblüffung fest, welche Geduldsprobe ihm hier auferlegt wurde. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Vermutlich war Meer mittlerweile in seinem Haus in Wien, und Ruth machte ihr sicher einen Happen zu essen. Ob er wohl schnell mal in den Flur
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