Der Beethoven-Fluch
Augen entrüstet blitzten. Als sie den Kopf schüttelte, flogen die blonden Locken. “Sebastian! Ich dachte, ich hätte mich am Telefon klar ausgedrückt!” Sie wandte sich nun an Meer; sie sprach reinstes britisches Englisch. “Entschuldigen Sie, aber Unbefugte sind ein zu großer Störfaktor im Behandlungsablauf meines Sohnes.”
Ihre gequälte Miene war für Meer nur schwer zu ertragen. Sie erinnerte sie zu sehr an den kummervollen Ausdruck ihrer Mutter. “Ich möchte Ihren Jungen auf keinen Fall aufregen”, stellte sie klar und fügte, an Sebastian gewandt, hinzu: “Ich warte besser auf dem Flur. Ich möchte Ihnen den Besuch nicht verderben.”
“Nein, bitte, Meer! Bleiben Sie!” An seine geschiedene Frau gewandt, fragte er grimmig: “Nichts hat geholfen! Warum lässt du sie nicht ein bisschen Zeit mit ihm verbringen? Vielleicht kann sie sich in ihn hineinversetzen. Sie hat das alles selbst durchgemacht.”
Nicolas’ Gemurmel nahm an Lautstärke zu; das Summen wandelte sich zu Gebrumm. Die Ärztin blickte zu ihrem Sohn hinüber, betrachtete ihn eine ganze Weile und wandte sich dann wieder an ihren Exmann. “Dass du mich hier so unter Druck setzt, ist nicht fair! Bleibt bitte nicht so lange.”
Nachdem die Tür sich leise hinter ihr geschlossen hatte, ließ Sebastian sich vor dem Jungen auf die Knie nieder und flüsterte auf ihn ein. Nicolas reagierte nicht, doch Sebastian ließ sich nicht beirren und strich ihm lächelnd über das Haar, die Miene dabei eine herzbewegende Mischung aus Zuneigung und Verzweiflung.
Nicolas’ Augen blickten groß und kummervoll, als habe er ständig Schlachten und Kriege vor Augen und müsse Entsetzliches mitansehen, das ihn bis ins Mark erschütterte. Er sah seinen Vater zwar nicht direkt an, lehnte sich ihm jedoch entgegen, als sehne er sich unbewusst nach der väterlichen Wärme.
“So lebt mein Sohn jetzt.”
Meer wusste nicht genau, ob Sebastian damit die Umgebung oder den seelischen Zustand des Jungen meinte. “Und wie lange geht das schon so?”
“Etwa zwei Monate. Rebecca hatte ihn zwischenzeitlich mal zu Hause behandelt, obwohl das schwierig war. Und dann …” Wütend verzerrte er den Mund und kniff die Lippen zu einer zornigen, geraden Linie zusammen. “Er sackte tiefer und tiefer in dieses Loch, und es wurde offensichtlich, dass er in psychiatrische Behandlung gehörte.” Er stockte, holte tief Luft und sprach dann weiter. “Ich war bereit, ihn bei mir aufzunehmen und die Behandlung weiterführen zu lassen, aber meine Exfrau hielt dies hier für die beste Lösung. Ihre Kollegen brachte sie natürlich auf ihre Linie, und da sie hier zur Ärzteschaft gehört, konnte sie Ausnahmeregelungen erwirken: Solange das Bett nicht anderweitig benötigt wurde, kann Nicolas hierbleiben. Da die Psychiatrie-Patienten mittlerweile zu achtzig Prozent ambulant behandelt werden, braucht er kaum damit zu rechnen, dass er das Zimmer räumen muss.”
Es war die Erwähnung des Zimmers, die Meer veranlasste, den Blick von dem Kind zu nehmen und sich umzusehen. Sie fixierte sich dabei auf den Stapel mit Zeichnungen, den Sebastian ihr vorhin gezeigt hatte, und erst jetzt begriff sie so richtig, was er mit dem Schrecken gemeint hatte. All diese düsteren Kinderskizzen waren in schwarzen, grauen und braunen Farbtönen gehalten, nirgendwo bunte Farben zu sehen. Direkt neben dem Blätterstapel standen drei kittgraue Gebilde aus Ton. Die Zeichnungen und Skulpturen zeigten immer dasselbe Objekt: das Gesicht eines kleinen Jungen – nicht Nicolas, sondern ein ganz anders aussehendes Kind. Die Augen lebhaft und schreckgeweitet, der Mund zum stummen Schrei geöffnet.
“Na, Nicolas?”, fragte Meer. “Macht es dich denn nicht traurig, wenn du den ganzen Tag mit diesem kleinen Jungen zusammen bist?”
Er gab keine Antwort.
“Sagten Sie nicht, er versteht Englisch?”, fragte sie Sebastian.
“Tut er auch. Zumindest vor diesem ganzen Drama. Rebeccas Mutter ist Engländerin, ihr Vater Deutscher. Nicolas war im Sommer oft bei den Großeltern in Surrey.”
“Du bist ja ein richtiger Künstler, Nicolas!”, lobte Meer, die es noch einmal versuchte.
Der Junge schaukelte inzwischen auf seinem Stuhl vor und zurück, wobei er weiterhin unverständliche Worte von sich gab.
“Was sagt er denn da?”, fragte Meer. “Verstehen Sie das?”
Sebastian nickte ernst. “Ja. Rebecca hat mal eine Dame mitgebracht, die Lippen lesen kann. Was er da tut, das nennt man auf Jiddisch davnen: Er
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