Der Beethoven-Fluch
betet. Unser Sohn rezitiert das jüdische Totengebet.”
“Sind Sie denn …”
Er brauchte die Frage gar nicht zu Ende zu hören. “Nein, weder meine Exfrau noch ich sind Juden. Soweit ich weiß, hat unser Junge nie eine Synagoge von innen gesehen. Die jüdische Gemeinde in Wien ist nicht sehr groß.”
Meer kannte Sebastian nicht so gut, doch seine verkniffenen Lippen verrieten ihr, dass er ihr dabei einiges verschwieg.
“Nicolas?” Sie setzte sich ganz dicht zu dem Jungen. “Ich weiß, wie das ist, wenn man sich an Menschen erinnert, die man noch nie gesehen hat. Und an Orte, an denen man noch nie war. Es kommt einem alles ganz wirklich vor, aber andere können es nicht sehen oder hören. Ist das bei dir auch so?”
Sie wartete auf eine Antwort, aber er nahm sie gar nicht zur Kenntnis und summte einfach weiter. Der Kummer in den Tönen ging ihr nahe.
“Wenn du möchtest, erzähle ich dir von dem kleinen Mädchen, das mal in meinem Kopf wohnte … so wie der kleine Junge in deinem. Allerdings konnte ich das Mädchen nicht zeichnen. Es spielte Klavier, und ich habe andauernd versucht, die Melodie nachzuspielen. Ich hätte es auch fast geschafft, aber eben nur fast.”
Es überraschte sie selber, dass es ihr so leichtfiel, mit diesem stillen Jungen, dessen Bewusstsein offenbar in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort gefangen war, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Einstein hat einmal geschrieben: “Die Realität ist nur eine Illusion, allerdings eine ziemlich hartnäckige.” Bislang hatte Meer sich stets als lebenden Beweis für das Gegenteil gehalten. Die Illusion war ihre Realität und war es schon immer gewesen. Genau so verhielt es sich offenbar mit Nicolas. Sie blieb noch ein paar Minuten und erzählte ihm, welche Ängste sie ausgestanden hatte, wenn die “Schreckgespenster” kamen, und wie sie diesem Schrecken nie so richtig entkommen konnte.
“Meine Eltern wussten sich auch keinen Rat mehr.” Sie sprach im Flüsterton, aber bewusst fröhlich. “Dabei müssten sie manchmal eigentlich selber merken, wie sehr sie einen unter Druck setzen. Nicht wahr?”
Immer noch keine Antwort.
“Wenn du ein bisschen lauter singst, damit ich die Melodie erkenne – dann singe ich vielleicht mit.”
Schließlich sah sie ein, dass sie nicht zu ihm durchdrang, auch wenn er sie möglicherweise durchaus verstand. Sie erhob sich, tätschelte ihm den Kopf, strich ihm das Haar glatt und verabschiedete sich leise von ihm. “Wenn ich mal wiederkommen soll, musst du’s nur sagen. Dann komme ich. Ich fände es schön, wenn mal jemand versteht, wie ich mich damals fühlte und wie schlimm das ist.”
Während sie sich von ihm löste, trat Sebastian vor, nahm seinen Sohn in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Einige Sekunden verhielten sie so in der Umarmung, sodass Meer sich ganz abwandte, um nicht zu stören. Sie hätte Sebastian gerne gesagt, dass solche Umarmungen hilfreich waren. Nur wusste sie aus eigener Erfahrung, dass dem nicht so war. Es half einem eben nicht. Saß man erst einmal in dieser Eiseskälte, zog einen auch die bestgemeinte Liebkosung nicht heraus.
Vor dem Verlassen des Zimmers trat Sebastian noch vor das über dem Bett angebrachte Regal und stellte das Radio an, das darauf stand. Die Klänge einer Sibelius-Sinfonie erfüllten den Raum. “Jetzt können wir gehen”, sagte er zu Meer.
Wieder draußen angelangt, führte Sebastian sie einen schmalen Pfad hinunter. “Kleiner Spaziergang gefällig?”
Sie willigte ein, in erster Linie, weil sie Lust dazu hatte, aber auch, um den Schmerz in seinen Augen ein wenig zu lindern. “Sie haben vorhin im Zimmer Ihres Sohnes das Radio angemacht”, sagte sie, indem sie auf das einzige Thema zu sprechen kam, auf dass er sich nach ihrem Gefühl jetzt konzentrieren konnte.
“Nicolas hat immer schon gern Musik gehört. Selbst als ganz kleiner Junge schon. Ich glaube, zu dieser Zeit war ich am glücklichsten … als mein kleiner Sohn dasaß und zuhörte, wenn ich ihm etwas vorspielte.”
“Tun Sie das noch?”
Er nickte. “Es sieht aus, als höre er mich gar nicht, aber sein Gesumme passt sich dann dem Rhythmus meines Spiels an. Ich habe die Schwestern gebeten, das Radio auf den Klassiksender einzustellen. Wenn dann ein Konzert übertragen wird, in dem ich mitspiele, dann schalten sie ein und sagen ihm, hör mal, da spielt dein Papa mit. Das machen sie sehr gut. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Musik ihn eines Tages
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