Der Beethoven-Fluch
heraufbeschworen hatten.
“Meer, mein Schatz, du hast schon immer das Pferd von hinten aufgezäumt. Bevor das mit deiner rätselhaften Musik losging, hatte ich mit Religion nichts am Hut. Klar, ich habe verschollene Judaica aufgestöbert – aber als Antiquitätenhändler, wohlgemerkt. An Feiertagen ging ich brav in die Synagoge, doch mehr aus Routine und aus Achtung vor meinen jüdischen Wurzeln. Ein Schriftgelehrter war ich nie. Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie wichtig das Konzept der Wiedergeburt für den jüdischen Glauben ist. Davon erfuhr ich erst, nachdem das mit deinen Problemen anfing.”
“Ach, demnach hast du das wohl alles für mich getan?” Die Frage klang sarkastischer als beabsichtigt.
“Um es zu verstehen. Damit ich dir helfen konnte.”
“Vermutlich glaubst du das sogar selber.”
“Hast du den Film ‘Die totale Erinnerung – Total Recall’ gesehen?”
Meer sah ihren Vater verwirrt an. “Nein.”
“Arnold Schwarzenegger spielt da einen Mann, der sich nicht mehr auf sein Gedächtnis verlassen kann. So weiß er beispielsweise nicht mehr, was echt oder was unecht ist. Wenn man ihn nach einem Wunsch fragt, sagt er immer: ‘Ich möchte mich erinnern’, und auf die Frage, an was denn, antwortet er: ‘An mich selber.’ Genau das wünsche ich mir für dich. Dass du dich erinnerst. Damit du wieder ganz du selbst sein kannst.”
Die folgenden Minuten fuhren sie stumm weiter bis zur Praterstraße, wo Meer die vertraute hebräische Beschriftung an einigen Gebäuden wiedererkannte. Hier war sie am Samstagabend herumgeschlendert. “Wo sind wir hier?”
“Im alten jüdischen Viertel. Zum größten Teil wurde das wieder aufgebaut, und zwar von nach Wien zurückgekehrten Juden.” Jeremy bog in eine Seitenstraße ein, eine schmale Gasse. “Wieso fragst du?”, erkundigte er sich mit einem Seitenblick auf seine Tochter. “Ist was?”
“Nein, alles in Ordnung.”
Er setzte den Wagen in eine Parkbucht. Ohne auf ihren Vater zu warten, stieg Meer aus, wandte sich nach rechts und ging die Gasse hinunter.
“Du weißt doch gar nicht, wohin …” Jeremy unterbrach sich, eilte seiner Tochter nach und holte sie ein, als sie vor dem unscheinbaren Haus Engerthstraße 122 stehen blieb. “Woher wusstest du, dass ich hierhin wollte?”
34. KAPITEL
L ebe so, wie wenn Du nochmals leben könntest – dies ist Deine Pflicht. Denn Du wirst in jedem Falle nochmals leben!
– Friedrich Nietzsche –
Montag, 28. April – 13:25 Uhr
“Hier also versammeln sich die Memoristen seit Gründung ihrer Gesellschaft Ende 1809”, erklärte Jeremy, der auf das Schnarren des Türöffners hin das schwere Portal aufdrückte. Dann hielt er seiner Tochter die Tür auf, doch Meer machte keine Anstalten, über die Schwelle zu treten. Wieder spürte sie das Frösteln, den metallischen Geschmack im Mund; abermals merkte sie, wie die Gebäude links und rechts durchscheinend wurden.
“Alles in Ordnung?”
“Ja …”, murmelte sie, bemüht, ihre Stimme möglichst normal klingen zu lassen, obwohl sie gleichzeitig gegen die Schreckgespenster ankämpfte.
“Was ist los?”
Unter Aufbietung aller Kräfte überwand sie sich schließlich und trat in den Vorraum. Hinter ihr fiel die Tür mit einem weithin hallenden Klicken ins Schloss. Meers Beine fühlten sich an, als wären Bleigewichte daran befestigt; jeder Schritt bedeutete eine ungeheure Anstrengung, doch trotzdem folgte sie ihrem Vater über den mit schwarzweißen Marmorfliesen belegten Fußboden, durch den Bogengang und hinein in den Versammlungssaal der Gesellschaft.
Am Abend zuvor, draußen auf der Straße, da hatte sie alles genau so vor Augen gehabt: die aufwendig gestaltete Decke mit ihren wie Sterne funkelnden winzigen Spiegeln, die ausgefallenen Verzierungen, die steinernen Buddha-Figuren.
Obwohl nun schon ein Leben lang um Erinnerung bemüht, obwohl Dutzende Male hypnotisiert und in unterschiedlichsten Meditationstechniken geschult, begriff Meer nach wie vor nicht, wie sie allem Anschein nach durch die Jahre hindurch ins Innere dieses Gebäudes und in eine längst vergangene Zeit geschaut hatte.
Ein stattlicher, silberhaariger Herr, der beim Gehen leicht das Bein nachzog, kam auf sie zu. Jeremy stellte Meer und Fremont Brecht einander vor.
“Ich bedaure sehr, dass Sie seit Ihrer Ankunft in Wien solche Unannehmlichkeiten hatten”, sagte Brecht in kultiviertem, leicht akzentgefärbtem Englisch. Ungeachtet seiner Leibesfülle wirkte er
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