Der Befehl aus dem Dunkel
»Sämtliche Gefangenen sind sofort in Freiheit zu setzen. General Iwanow.«
Wäre der Blitz in das Gouvernementsgebäude von Irkutsk gefahren, Verwirrung und Aufregung hätten nicht größer sein können. Wie ein Lauffeuer ging die Kunde von diesem unbegreiflichen Erlaß des Oberbefehlshabers durch den Riesenbau.
Alle Gefangenen freilassen? War der General wahnsinnig geworden?
Wenige Minuten später war das Zimmer des Generals voll von höheren Beamten und Offizieren, die ihn mit Fragen bestürmten. Doch immer nur die eine Antwort aus Iwanows Mund: »Die Gefangenen sind unschuldig. Außerdem liegt ihre Entlassung im Staatsinteresse.«
Waren es wirklich die Worte des Generals oder war es etwas anderes – eine Stimme nach der anderen verstummte. Die erregten Gesichter glätteten sich mehr und mehr – und dann nickten die einen zustimmend, die anderen sprachen laut heraus, es könne gar keinem Zweifel unterliegen, daß das Staatsinteresse die Freilassung der Gefangenen erfordere – sie seien völlig unschuldig.
War dieser plötzliche Stimmungswechsel der Versammelten schon recht sonderbar, so war auch ihr weiteres Verhalten überaus merkwürdig. Anstatt nun nach Erledigung der Angelegenheit das Zimmer zu verlassen, blieben sie noch eine volle Stunde bei Iwanow, ohne außer ein paar gleichgültigen Redensarten über die Gefangenen weitere Worte zu wechseln.
Als aber gegen Mittag der General und die anderen das Zimmer verlassen hatten, dauerte es nur wenige Minuten, da schrillten nach einer kurzen Besprechung Iwanows mit den anderen Herren bei allen Behörden die Telefone: »Befehl des Generals, die vor einer Stunde entlassenen Gefangenen sofort wieder zu verhaften und in das Gefängnis einzuliefern.« Bis auf eine der Gefangenen, ein junges Mädchen namens Lydia Allgermissen, wurden die übrigen alsbald wieder festgenommen.
Am Nachmittag desselben Tages berief Iwanow sämtliche Offiziere und Funktionäre, die am Mittag bei ihm gewesen waren, zu einer Besprechung zu sich. Noch ehe man dazu kam, sich über das Unbegreifliche auszusprechen, sprangen alle wie auf ein gegebenes Kommando auf und bewegten sich in lebhaften Tanzschritten durch den Raum. Gleichzeitig erschien vor einem Fenster ein alter, einfach gekleideter Mann, der sich über das Bild im Zimmer aufs höchste belustigte. Während seine Hände unaufhörlich den Takt zu dem Tanz im Gouverneurszimmer schlugen, sprudelten aus seinem Mund heftige Verwünschungen und boshaftes Gekicher.
Plötzlich öffnete sich die Tür zu dem Zimmer, und ein junger Offizier im Dienstanzug trat herein. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte auf die sonderbare Szene. Dann suchten seine Augen die des Generals, und was er darin las, erfüllte ihn mit Entsetzen. Angst, Wut, tiefste Beschämung sprachen nur zu deutlich daraus.
Unfähig, den Mund zu einer Frage zu öffnen, einen Entschluß zu fassen, stand der Offizier. Da fiel sein Blick auf das Fenster, hinter dem der Alte mit kreischenden Freudenrufen die Szene begleitete. Blitzartig kam dem Offizier der Gedanke, daß der dort draußen vielleicht durch Hypnose oder suggestiven Zwang den General und die anderen zu diesen jeder Vernunft und Sitte hohnsprechenden Tanzbewegungen veranlasse. Mit einem Sprung war er am Fenster und schoß durch die Scheibe hindurch den Alten in den Kopf, daß er sofort tot umsank.
Doch seine schnelle Vermutung bestätigte sich nicht. Die Versammelten tanzten unentwegt weiter, obwohl einige der Älteren sich nur noch mit Mühe auf den Füßen hielten. Kaum noch Herr seiner Sinne, wollte der Offizier aus dem Zimmer eilen und Hilfe holen, da war der Tanz plötzlich zu Ende. Verwirrt, atemlos, erschöpft taumelten die sonderbaren Tänzer zu den nächstbesten Sitzgelegenheiten. Iwanow gab … Dies stand gedruckt in der neuen Ausgabe der »Daily Mail«, die ein schlafender Passagier im D-Zug Aachen–Paris in der Hand hielt. Sein Gegenüber hatte weit vorgebeugt den Text bis hierhin mit größtem Interesse lesen können. Wie ging die merkwürdige Geschichte weiter? Wer hatte das geschrieben?
Fiebernd vor Neugierde und Ungeduld hätte Georg Astenryk dem Schlafenden am liebsten die Zeitung fortgenommen. Ärgerlich warf er sich auf seinen Sitz zurück, da traf sein Blick das etwas belustigte Gesicht seines Reisegefährten zur Rechten. Der mochte über sein Buch hinweg wohl etwas von dieser Lektüre mit Hindernissen beobachtet haben und reichte ihm jetzt lächelnd eine Zeitung.
»Bitte, Herr
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