Die Sumpfloch-Saga Bd. 2 - Dunkelherzen und Sternenstaub
Kapitel 1: Das Winterkind von Finsterpfahl
Wer auch immer Scarlett loswerden wollte, als sie noch kein Jahr alt war, hatte wenig Mut besessen. Die echten Waisenkinder wurden meist persönlich im ‚Kinderheim für Elternlose’ vorbeigebracht, die unechten Waisenkinder stellte man mitten in der Nacht in einem Korb vor die Tür. Man tat es nicht gerade im Winter, wenn es eisig kalt war, sondern im Frühling, wenn keine Gefahr bestand, dass das Kind erfror. Die Leute, die das Kind nicht haben wollten, stellten es also schön warm eingepackt in einem Korb auf die Treppe, hämmerten kurz ans Tor oder läuteten sogar die Glocke, bis der Hund bellte. Und dann rannten sie weg. Darüber konnte man denken, wie man wollte, aber es war zumindest ein wenig Fürsorge zu erkennen.
Nicht so bei Scarlett. Es war ein harter, kalter Winter vor zwölf Jahren, als Scarlett in einen Sack mit Kartoffeln gesteckt wurde. Und zwar in einen Sack mit fauligen Kartoffeln, die keiner mehr kaufen wollte und die daher an Waisenhäuser im ganzen Land verteilt wurden. Der Sack wurde oben zugebunden und auf einen Haufen mit anderen Säcken geworfen, die auf Pferdekarren verladen und in alle möglichen Richtungen gefahren wurden. Wie es der Zufall – oder das Schicksal – so wollte, fuhr der Wagen, auf dem der Sack mit Scarlett gelandet war, in den ärmsten und nördlichsten Landstrich von ganz Amuylett: nach Finsterpfahl. Hier gingen die Uhren noch anders oder eigentlich gar nicht. Alles, was im modernen Amuylett schon selbstverständlich war – Kläranlagen für Abwässer, Gesetze gegen den Missbrauch magikalischer Technik oder die Gleichberechtigung aller Kreaturen – war in Finsterpfahl noch nicht angekommen. Hier lebte man nach sehr alten Regeln und die besagten, dass man denen gehorchte, die es am besten wussten. Am besten wussten es die, deren Eltern es schon am besten gewusst hatten, welche wiederum die Kinder derer waren, die es auch schon am besten gewusst hatten.
Aber davon ahnte Scarlett nichts, als sie an einem klirrend kalten Morgen noch vor Sonnenaufgang im Hof des ‚Kinderheims für Elternlose’ abgeladen wurde. Die Fahrt hatte länger gedauert als normalerweise, da der Kutscher vom Pech verfolgt gewesen war: Erst war ihm eine Radachse gebrochen, dann war er im tiefen Schnee steckengeblieben und als er in Finsterpfahl hinter einem Baum pinkeln wollte, hatte ihm jemand ein Messer an den Hals gehalten und seine Geldbörse gefordert, die er schlotternd herausgerückt hatte. Noch nie hatte ihm eine Fracht so viel Unglück gebracht. Jetzt war er froh, dass er sie los war. Er knallte den Sack, in dem sich Scarlett befand auf ein Fass mit Sauerkraut und machte sich schleunigst auf den Heimweg.
Ein einäugiger, humpelnder Knecht zerrte den Sack schließlich vom Hof in die Küche, nicht ohne dabei über die Türschwelle zu stolpern und sich dabei den Fuß zu verstauchen. Eine Magd mit einem Fischkopf verarztete ihn mit einer Salbe und einem Verband, bevor sie sich daran machte, den Sack zu öffnen, um die Kartoffeln herauszuholen.
„Was ist denn das?“, rief sie, als ein kleines, fest verschnürtes Bündel zum Vorschein kam.
Es war so fest eingewickelt, dass es im ersten Moment gar nicht lebendig aussah. Sogar der Kopf und der Mund waren eingewickelt, nur die Nase war frei geblieben. Dazu war das Bündel mit dunkelroter Farbe bemalt worden. Die Magd erschauerte: Hoffentlich war das kein trockenes Blut! Als sie die Nase entdeckte, die zwar kalt war, aber aus der regelmäßig ein Lufthauch kam, wickelte sie das Bündel aus, so schnell sie konnte. Was darin steckte, war ein echtes kleines Mädchen! Die Magd nahm es sofort in ihre Arme und wärmte es. Das Kind machte dabei keinen Mucks. Es war nur so, dass die Kartoffeln, die im Sack gelegen hatten, auf einmal merkwürdige Triebe bekamen, an denen scharlachrote Blüten erblühten, die nach Lakritze und verbranntem Torf rochen. Als die Magd die roten Blüten sah, beschloss sie, dass das Mädchen Scarlett heißen sollte.
Scarlett war ein schönes, aber kein freundliches Kind. Mit ihrer bräunlichen Haut unterschied sie sich von den blassen Kindern Finsterpfahls, ebenso durch ihr pechschwarzes Haar. Ihre Augen waren grün, giftgrün wollte man sagen, wenn man hineinsah. Es war aber gar nicht so, dass die Augen giftig grün gewesen wären, sondern es war der Ausdruck, der einen an Gift denken ließ. Scarlett war grundsätzlich feindselig. Und nur wer sich davon nicht abschrecken
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