Der Bernstein-Mensch
Er rollte den zähen Kem einer getrockneten Frucht auf der Zunge und bearbeitete ihn konzentriert. Dann nahm er einen langen Zug von metallisch schmeckendem Orangensaft und schließlich einen Schwall reinen Sauerstoff, der ihm kühl zu Kopf stieg.
Ein Stein rutschte unter seinem Stiefel weg, und er geriet ins Taumeln. Vorsichtig, vorsichtig. Das Gestein hier sah zernarbt und abgeschliffen aus. Erosion? Ströme von Ammoniak und Methan, die dieses Hochland abgehobelt hatten? Oder wiederholtes Gefrieren und Auftauen von Ammoniak in den Steinen, das sie zerbrochen und die Eisenerzadern pulverisiert hatte? In den Klippen und Felsblöcken gab es keine Linien, keine Spuren der Evolution. Alles hier war rein. Der Schutt des urzeitlichen Sonnensystems war hier angeschwemmt und hatte sich wie eine Schale um den eisigen Ball gelegt. Kein Schiefer, kein Sandstein, kein Granit. Nichts, was von einer Entwicklung Zeugnis ablegte, nichts, was im Innern gebacken oder von geduldigen Ozeanen abgelagert worden wäre. Eine frische Welt mit einer Oberfläche aus Müll, verbrämt mit …
Verbrämt mit …
Über ihm ragte der Bergkamm auf. Er kletterte einen Hang hinauf, und plötzlich lag der Grat hinter ihm. Vor ihm erstreckte sich ein schmales Tal. Felsspalten krochen wie Finger den Hang herauf auf ihn zu.
Verbrämt mit weißen Fasern …
Wenige hundert Meter weiter unten sah er einen elfenbeinfarbenen Strang. Aber ein Riß im Fels versperrte ihm den Weg; er würde am Kamm entlanggehen müssen, bis er einen sicheren Abstieg fand.
Der Himmel flackerte auf. Ein grelles, weißes Lodern strahlte über ihm auf und warf Schatten über das Land.
Ein Überwachungsgleiter. Bradley blieb regungslos stehen und hoffte, daß sein blauer Anzug sich nicht allzu deutlich abzeichnete.
Er verzog das Gesicht. Natürlich würde er auffällig sein, deswegen trugen sie ja diese Farben. Also wußten sie jetzt, wo er war. Vielleicht, wenn er mit Mara spräche …
Nein, sinnlos. Durch Reden konnte er Najima nicht aufhalten.
Bradley begann, hastig am Grat entlangzulaufen. Seine Stiefel glitten auf dem zusammengebackenen Eis ab; er spürte einen stechenden Schmerz und marschierte weiter.
Er trat über aufgewehten Staub hinweg und an rötlich-braunen Eisplatten vorbei. Die verschlissene Maschine seines Körpers begann zu schmerzen, und obwohl er sich auf seinen Weg konzentrierte, begannen Bilder durch seine Gedanken zu huschen, Bilder von Vonda und Mara und Corey, Erinnerungen an die Zeit, da er sich, schwitzend in seinem Kugelhelm, auf dem Mars abgekämpft hatte. Sein Körper war eine Tafel, beschrieben von diesen Menschen und diesen Orten, seine Haut ein zurechtgeschnittenes, verknittertes Manuskript. In seinem Körper fand er Aufzeichnungen, soviel er wollte: Das Brennen der Nahrung, die in seinem Bauch verweste, der Reste seines Abendessens, oder die süßen Nadelstiche seines protestierenden Knöchels, den er sich neulich gestoßen hatte, als er im Schreiter die Balance verloren hatte, oder einen Schmerz von säuerlicher, verschwommener Art, eine Folge dieser Anstrengungen, oder ein silbriges Stechen in der Wade, verursacht durch eine winzige Unebenheit im Anzug, oder ein Pochen in seiner Nase, das irgendwie an Jonathons Tanz erinnerte, oder den dumpfen Druck in seinen Schenkeln, ein Echo der jahrelangen Meditationen in Nordafrika, oder einen ziehenden Schmerz, während er immer weiter und weiter marschierte.
Die Zeit verschmolz zu einer endlosen Reihe von Schritten, zu dem Knirschen seiner Stiefel auf dem Kies, und zu dem Atem, der aus zusammenfallenden Lungen entwich. Eine betäubende Kälte kroch an seinen Beinen hoch. Er sah wie durch einen Tunnel, und die Luft in seinem Helm wurde dick und schmeckte faulig.
Wieviel Zeit noch? Najima konnte schnell laufen. Aber wenn Najima ihn nicht fand …
Bradley schwenkte um und begann den Hang hinunterzusteigen. Hier gab es große Felsblöcke, höher als er selbst. Er schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und sah sich dann um. Wenn Najima nicht direkt über ihm auf dem Grat stände, würde er den blauen Anzug in den Schatten kaum entdecken können.
Bradley suchte den Himmel ab. Nirgends blinkten die Lichtereines Hubschraubers, und nirgends fand er den Punkt eines Überwachungsfliegers. Am wallenden Horizont spie der Trichter des Vulkans dampfende, bräunliche Wolken in die Höhe. Schwarze Flecken tanzten in der zerfaserten Rauchfahne.
Flecken …
Bradley blinzelte und sah purpurne Punkte am Rande
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