Der Bernsteinring: Roman
Wolke weißer Apfelblütenblätter wirbelte auf und nahm ihm die Sicht. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf, und als er die Augen aufschlug, befand er sich wieder an dem kleinen Wäldchen, an dem er vor sieben Jahren gerastet hatte. Die Rückkehr war nicht ganz leicht, denn die Leute glaubten zunächst, er sei von den Toten auferstanden. Aber da Thomas nun nicht mehr lügen konnte, begann er den Menschen die Wahrheit zu erzählen. Er tat es in klingenden Reimen, und sein Rat wurde mehr und mehr geschätzt, denn man konnte sich immer darauf verlassen, dass er stets die Wahrheit sagen würde, auch wenn er in seinen Versen von unangenehmen Ereignissen berichtet. Sie nannten ihn Thomas den Reimer, und Fürsten und Könige suchten ihn auf. Er wurde reich und angesehen und gab viele Feste.
Doch dann, eines Tages geschah es. Eine milchweiße Hirschkuh und ihr Kitz kamen im silbernen Mondlicht den Berg hinunter zu Thomas’ Haus. Er stand auf, ohne sich um seine Gäste zu kümmern, und trat zwischen die beiden Tiere. Voller Freude ließ er sich von ihnen zurück ins Feenreich führen, zurück zu der geliebten Feenkönigin.«
»Wie wundervoll, Rosa. Ich kann verstehen, dass du diese Geschichte oft hören wolltest.«
»Ja. Julius ist wie Thomas der Reimer. Er hat mich immer verstanden. Sogar als ich fortging.«
»Liebt er dich auch?«
»Ich weiß nicht. Wir haben darüber nie gesprochen. Und ich hätte es wohl damals auch nicht erkannt. Er war wie ein großer Bruder für mich.« Sie schwieg eine Weile und fragte dann: »Anna, hast du auch eine Familie verlassen?«
»Nein, Rosa. Meine Mutter, Cosima Dennes, starb, als ich vierzehn war, mein Vater angeblich noch vor meinerGeburt. Ich will es manchmal nicht glauben. Ich habe mir oft ausgemalt, dass er ein bedeutender, ansehnlicher Mann war, denn solche liebte meine Mutter. Vielleicht sogar ein Ritter, der fortzog und im Kampf fiel. Oder ein Adliger aus einem fremden Land, der sie wieder verlassen musste, um seinem König zu dienen. Er sollte auftauchen und mich auf seine Burg mitnehmen und mir dort ein Leben in Ehrbarkeit und Ansehen ermöglichen. Kinderträume, Rosa. Wie die deinen. Denn meine Mutter hat mir nie gesagt, wer er war. Sie war keine ehrbare Frau.«
»Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht.«
»Es gab eine Zeit, da war ich deshalb recht unglücklich. Aber jetzt... jetzt geht es.«
»Was wünschst du dir?«
»Ich habe alles, was ich mir wünsche, Rosa.« »Sicher?«
Anna lachte leise auf. »Ich könnte mir etwas völlig Unmögliches wünschen, nur um zu sehen, ob die Marien wirklich so wundertätig sind, wie es heißt. Was meinst du?«
»Aber Anna!« Rosa war ehrlich entsetzt.
»Doch, Rosa. Ich möchte wissen, wer mein Vater war.«
»Kann sein, dass das genauso schwierig zu erfüllen ist, wie meine Wünsche«, meinte Rosa. »Aber komm, wie wollen den Marien ein kleines Opfer bringen, damit sie wissen, wie ernst es uns damit ist.«
»Ich habe nichts bei mir, das ich opfern könnte.«
»Ich schon.« Rosa schlug den Rock hoch und zog einen kleinen, scharfen Dolch aus der Lederscheide, die sie um ihren Unterschenkel geschnallt hatte. »Das lernt man, wenn man viel unterwegs ist!«, erklärte sie mit einem Grinsen. »Man weiß nie, wer einem begegnet.«
Dann zupfte sie eine Strähne ihres blonden Haares unter dem Gebände hervor und schnitt es ab.
»Eine gute Idee.«
Anna zog ebenfalls eine Locke hervor und ließ sie sich von Rosa abschneiden.
»Wir vergraben sie vor dem Stein.«
Mit dem Dolch löste Rosa ein Stückchen der Grassode, und Anna half ihr mit dem beinernen Löffel, den sie in ihrer Gürteltasche mitführte, ein Loch auszuheben. Es war etwa eine Handbreit tief, als sie plötzlich einen leisen Schrei ausstieß.
»Rosa, schau mal!«
Sie kratzte an dem glitzernden Gegenstand und lockerte ihn. Und dann hielt sie einen Ring in der Hand. Aus Gold war er, und in Gold gefasst war der rote Stein. In ihn eingeschnitten erkannte man ein kleines, sich aufbäumendes Pferdchen. Und innen im Ring bildeten feine Buchstaben die Worte: In perpetuam memoriam.
»Zum immerwährenden Gedenken!«, sagte Anna.
»Das heißt es?«
»Ja. Wer mag den hier vergraben haben?«
»Jemand wie wir, Anna. Glaubst du nicht?«
»Ich weiß nicht. Es ist ein bisschen unheimlich.«
»Ich finde, wir sollten ihn als ein Zeichen sehen.«
Anna drehte den Ring nachdenklich zwischen den Fingern. Sie fühlte sich seltsam. Etwas war ihr vertraut an diesem kleinen Schmuckstück.
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