Der Bernsteinring: Roman
ernten im Überfluss«, lautete der Vers aus dem vierten Psalm, der darunter geschrieben stand.
Rosa war begeistert, und so beschloss Anna, dass ihr Werk nicht nur Szenen aus ihrem eigenen vergangenen Leben enthalten sollte, sondern auch die ihrer Freundin Rosa. Im Herbst und im Winter entstand ein Bild, auf dem ein Spielmann zur Laute sang, eine Tänzerin ihre Röcke schwenkte, ein alter Theriakhändler seine Elixiere an die Leidenden verkaufte, ein junges Mädchen mit offenem Haar Münzen einsammelte. Darunter aber schrieb sie die Worte aus dem Psalm 104:«Singen will ich dem Herren ein Leben hindurch, meinem Gott auf der Harfe spielen, so lange ich bin.«
Beide Bilder ordnete Anna der Prim, der ersten Stunde zu, und die Kapitelszene zeigte den orangegelben Himmel bei Sonnenaufgang, der sich über einem laubgrünen Wald wölbte. Mercurius widmete sie die erste Stunde des Tages, dem wortgewandten Überbringer der Botschaften.
Rosa fand in jenen dunklen Tagen auch eine neue Beschäftigung. Seit sie mit Griffel und Feder umzugehen gelernt hatte, übte sie sich im Schreiben. Doch ihre Buchstaben waren zu krakelig, als dass sie hätte Schriften kopieren können. Hingegen flossen ihr Ranken und Blumen, zierliche Ornamente, Schnörkel und verschlungene Muster wie von selbst aus der Hand. Die Schreibmeisterin beobachtete sie eine Weile, und dann saßen Anna und Rosa täglich gemeinsam über den Blättern des Evangelistars und füllten sie mit Worten und Bildern. Nach der Vesper aber arbeiteten beide einträchtig an Annas Stundenbuch.
13. Kapitel
Der Bär ist los
Fünf Jahre verstrichen in stiller Beschaulichkeit für Anna. Sie teilte mit Rosa nach wie vor ihre Kammer im ersten Stock des Kanonissenhauses, die sie bei ihrem Eintritt bezogen hatte. Als sie an diesem Sommermorgen aufwachte, streckte sie sich behaglich unter ihren Laken und blinzelte in die Helligkeit. Die Kammer war zwar nicht geräumig, aber an den weiß gekalkten Wänden hingen die beiden Wandteppiche, die ihre Mutter so sehr geliebt hatte. Das erste Morgenlicht sickerte durch die Ritzen und Spalten der Läden und zog helle Streifen auf den Boden. Ein schöner Tag stand ihr bevor. Heute würde sie mit Dionysia, der alten Schreibmeisterin, zum Buchbinder gehen und die endlich fertig gestellten Seiten des Evangelistars abliefern. Es handelte sich um das Werk, an dem sie beide viele Jahre einträchtig miteinander gearbeitet hatten. In der letzten Zeit aber war es beinahe ausschließlich Anna gewesen, die die akkuraten Buchstaben geschrieben und die Initialen mit Ornamenten verziert hatte. Dionysias Hände waren vom Alter steif geworden und ihre Augen, wenn auch in der Ferne noch scharfsichtig, ermüdeten doch bei feinen Arbeiten schnell. Sie hatten lange überlegt, wie das Buch gebunden werden sollte und einen Buchbinder gesucht, der ihre Vorstellungen erfüllen würde. Schließlich hatten sie sich für einen Meister entschieden, der am anderen Ende der Stadt, auf dem Hunsrücken vor Sankt Ursula, seine Werkstatt hatte. Für einen Gang quer durchKöln lud das sonnige Wetter wahrhaftig ein, und Anna schlüpfte voller Vorfreude in ihre dunkle KanonissenTracht, um an der Laudes teilzunehmen. Im Winter verabscheute sie dieses erste Stundengebet des Tages, weil es kalt und klamm in der großen, ungeheizten Kirche von Sankt Maria im Kapitol war. Doch im Sommer begrüßte sie den Tag in der Morgenkühle mit aufrichtigem Jubel. Anschließend fanden sich die Kanonissen im Refektorium ein, um ein kleines, morgendliches Mahl zu sich zu nehmen. Um die notwendige Ruhe musste die Priorin nicht bangen, die meisten Frauen waren noch verschlafen und wenig zur Unterhaltung aufgelegt. Die folgende Gebetsstunde, die Prim, weckte aber auch die müdesten Kanonissen, selbst diejenigen, die unwissentlich oder manchmal auch wissentlich die Glocke überhört hatten, die zur Laudes bei Sonnenaufgang rief, erschienen nun.
Anna und Dionysia hatten die Erlaubnis erhalten, die Terz und die Sext auszulassen, um sich dem Buchbinder zu widmen. Zwar hätte Anna lieber eines der leichten, bunten Kleider getragen, die ihr erlaubt waren, außerhalb der Gebetszeiten zu tragen, aber da sie in offizieller Mission für das Stift unterwegs waren, behielt sie die schwarze Tracht, das weiße Gebände mit dem schwarzen Schleier darüber an. Ein wenig sah sie aus wie eine Nonne, doch die Kleidung war aus feinstem Material und sorgsam gearbeitet.
Die alte Schreibmeisterin, genauso gewandet wie
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