Der Beschütze
23 Tage
Margaret Priddy erwachte von dem gleißend hellen Lichtstrahl, den sie seit Jahren mit Furcht und Sehnsucht erwartet hatte.
Endlich, dachte sie, ich sterbe. Und Tränen der Trauer mischten sich auf ihren Wangen mit Freudentränen.
Seit ihrem Sturz hatte sie hier – oder an einem ganz ähnlichen Ort – schlaff und bewegungsunfähig gelegen und war selbst für ihre grundlegendsten Bedürfnisse auf andere angewiesen. Nahrung, Wasser, Wärme. Die Toilette – etwas, das die Schwestern handhabten, als sei Margarets Würde gelähmt und gefühllos, nicht ihr Körper. Gesellschaft …
Die Schwestern gaben sich redlich Mühe.
»Guten Morgen, Margaret! Was für ein schöner Tag!«
»Guten Morgen, Margaret! Gut geschlafen?«
»Guten Morgen, Margaret! Es regnet schon wieder!«
Und dann ging ihnen entweder jeglicher Gesprächsstoff aus, oder sie plapperten munter weiter. Wie sie neulich abends unterwegs gewesen seien und zu tief ins Glas geschaut hätten, oder welche endlosen Heldentaten ihre Kinder in der Schule vollbrächten. Ein erbarmungsloser Reigen fröhlicher Geschäftigkeit mit großen Busen und schwabbeligen Oberarmen. Zuerst hatte sie sich darüber gefreut, dass das Schweigen hin und wieder gebrochen wurde, doch angesichts dümmlicher Nichtigkeiten sehnte Margaret sich schon sehr bald danach, allein zu sein.
Sie war dankbar. Selbstverständlich war sie dankbar. Dankbar und höflich – wie es eine englische Lady unter solchen Umständen sein sollte. Natürlich wussten sie nichts von ihrer
Dankbarkeit, doch sie versuchte, sie mit den Augen auszudrücken, und sie glaubte, dass ein paar von ihnen sie verstanden. Peter verstand sie, aber Peter war auch schon immer ein sensibler Junge gewesen.
Jetzt – als das Licht ihr in den Augen brannte – dachte Margaret Priddy an ihren Sohn, und die Tränen der Trauer gewannen die Oberhand. Peter war vierundvierzig, doch in ihren Gedanken war er noch immer der Fünfjährige, der in blauen Shorts und einem Batman-T-Shirt in Minehead den Kiesstrand hinunterrannte, bei ihrem allerersten Urlaub am Meer.
Sie ließ ihren Kleinen allein zurück.
Ihr war klar, dass das töricht war, aber so empfand sie es eben.
Sie starb, und er würde ganz allein sein.
Aber wie dem auch sei, sie starb tatsächlich. Endlich. Und es war genau so, wie sie gedacht hatte – weiß und wunderbar und schmerzlos.
Erst als sie die Last auf dem Bett erahnte, begriff sie, dass dies nicht der Beginn ihrer Reise ins Jenseits war, sondern dass jemand in ihrem Zimmer war, mit einer Taschenlampe.
Jemand Ungebetenes, der sich unerlaubt Zutritt zu ihrem Heim verschaffte, zu ihrem Zimmer, zu ihrem Bett, sogar zu der Luft vor ihrem Gesicht…
Jede Faser von Margaret Priddys Wesen schrie sie an, auf die Gefahr zu reagieren.
Unglücklicherweise war jede Faser ihres Wesens unterhalb des Halses vor drei Jahren endgültig von ihrem Gehirn abgekoppelt worden, als der alte Buster – das zuverlässigste Pferd, das sie je gekannt hatte – auf einer Eisplatte ausgerutscht war und sie mit dem Kopf voran gegen einen hölzernen Telefonmast geschleudert hatte.
Anstatt also zu schreien, um sich zu schlagen und um das zu kämpfen, was von ihrem Leben noch übrig war, konnte sie nur entsetzt mit den Augen blinzeln, als der Killer ihr ein Kissen aufs Gesicht drückte.
Er wollte ihr nicht wehtun. Sie sollte nur tot sein.
Während er Margaret Priddy mit ihrem eigenen, sorgsam aufgeschüttelten Kopfkissen erstickte, spürte er, wie sich alle Spannung schlagartig löste. Als berste eine alte Uhr plötzlich auseinander, verstreue Tausende von komplizierten Einzelteilen überall und lasse gespannte Federn ins Nirgendwo davonspringen, während das beengende Gehäuse um ihn herum wegbrach.
Er schluchzte vor jäher Erleichterung auf.
Der Kopf der alten Dame fühlte sich durch das Kissen hindurch beruhigend fern und undeutlich an. Die unnatürliche Reglosigkeit ihres Körpers erschien ihm wie die Erlaubnis weiterzumachen, also machte er weiter. Er lehnte sich sehr viel länger mit seinem ganzen Gewicht auf das Kissen, als es nötig gewesen wäre, das wusste er.
Als er es schließlich wegnahm und ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, bestand die einzig erkennbare Veränderung in Margaret Priddy darin, dass das Licht in ihren Augen erloschen war.
»So«, sagte der Killer. »Das war doch ganz einfach.«
Erst Lucy – und jetzt das.
Police Constable Jonas Holly lehnte
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