Der beste Tag meines Lebens
neben der Umkleide für die Jungen, notdürftig zugedeckt vom Fichtennadelaroma eines ätzenden Reinigungsprodukts. Colin versuchte, beim Hineingehen statt durch die Nase durch den Mund zu atmen, doch da merkte er, dass er das Putzmittel auf der Zunge schmeckte. Kein Wunder, dachte er hilflos, denn Geschmacks- und Geruchssinn sind schließlich eng miteinander verbunden.
Kratz. Kratz.
Colin versuchte, sich ganz auf sein Gehör zu konzentrieren, während er durch die leere Halle trottete. Ein hochgewachsener, magerer Lehrer zerrte dort ein großes, mit Basketbällen gefülltes Netz über den Holzboden.
»Mr. Turrentine?«
Colins Stimme hallte noch in dem Turnsaal wider, als der Lehrer bereits aufsah und seine grauen Augen Colins blauen begegneten. Colin betrachtete Mr. Turrentines eindrucksvollen Schnauzbart, der ihn an Bösewichte in Stummfilmwestern oder auch an den sowjetischen Diktator Stalin erinnerte.
»Du bist früh dran«, sagte Mr. Turrentine, »und du verkratzt meinen Boden mit deinen Schuhen.« Er zeigte auf Colins schwarze Lederschuhe, deren Bänder zur Sicherheit doppelt verknotet waren. »Das ist schon mal kein guter Anfang.«
Colin reichte ihm ein sorgfältig gefaltetes Blatt Papier – eine Mitteilung seiner Eltern, die Colin hoffentlich vom Sportunterricht befreien würde. Mr. Turrentine überflog den Zettel einmal, zweimal mit absolut ausdrucksloser Miene.
»Asperger-Syndrom.« Mr. Turrentine betonte die Wörter langsam, aber korrekt. Bei den meisten Leuten hörte es sich eher wie »Ass-Burger« an. (Dieser Arsch-Burger war ein unerschöpflicher Quell der Erheiterung für Colins kleinen Bruder – und Dannys bevorzugter Spitzname für Colin, bis seine Mutter es ihm verbot), doch Mr. Turrentine sprach das S eher summend aus und entsprach damit ganz dem österreichischen Ursprung dieser Bezeichnung. »Was zum Teufel soll das denn sein?«
»Es handelt sich um ein neurologisches Leiden, vergleichbar dem Autismus«, erklärte Colin geduldig. »Entdeckt wurde es von dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger 1943 in Wien, doch als anerkannte Diagnose gilt es erst seit …«
»Autismus«, unterbrach Mr. Turrentine ihn. »Du meinst wie
Rain Man
[4]
?
Du siehst mir aber gar nicht wie Rain Man aus. Bist du so ein Rain Man, Fischer?«
»Meine Diagnose lautet, dass ich sehr gut funktioniere, doch ich habe nur schwach ausgeprägte soziale Fähigkeiten und Probleme mit der Zuordnung von Sinneseindrücken, was zu ernsten Defiziten im Bereich der körperlichen Koordination führt.«
Der Bart von Mr. Turrentine zuckte schwach. Gefiel ihm das, was er da gerade hörte, nicht, oder verstand er es einfach nicht? Colin entschied, es ihm noch ein wenig genauer zu erläutern. »Daher sind meine Eltern und mein Therapeutenteam der Ansicht, ich sollte vom Sportunterricht befreit werden.«
Mr. Turrentine blieb stumm und rührte sich nicht. Selbst jemand mit besseren sozialen Fähigkeiten als Colin hätte aus seiner Miene nicht schlau werden können. Endlich machte der Lehrer den Mund auf: »Ich kann diese Entschuldigung nicht akzeptieren.«
Der Schock sprach aus Colins sonst so gleichförmiger Stimme, die plötzlich eine Oktave höher klang. »Aber es steht doch ganz klar darin …«
»Ich weiß, was darin steht, Fischer«, sagte Mr. Turrentine. »Ich kann ja lesen. Und wenn ich jeden mit zwei linken Füßen von meinem Unterricht befreien würde, dann wäre ich hier bald ganz schön einsam. Und du willst doch sicher nicht, dass ich einsam bin, oder, Fischer?«
»Sie sind einsam?«
Mr. Turrentine deutete auf die halboffene Tür unter der Uhr an der Wand, aus der der schwache Uringeruch drang. »Zur Umkleide geht’s da lang«, sagte er. »Und ich nehme an, du hast gedacht, das kleine Briefchen würde genügen, also hast du keine Turnsachen dabei.«
Colin nickte und war beeindruckt von den kombinatorischen Fähigkeiten seines Lehrers. Doch der drehte sich um und stapfte entschlossen auf sein vollgestopftes Büro am anderen Ende der Halle zu. »Komm mit«, sagte Mr. Turrentine. »Ich will sehen, was ich in der Tonne mit den vergessenen und gefundenen Sachen für dich finde.«
Colin erstarrte. »Das ist doch keine Kleidung mit Synthetikfasern, oder?«
»Nur das Beste vom Besten im Hause Turrentine.«
Colin wäre gern erleichtert gewesen, doch er hatte den Verdacht, dass Mr. Turrentine scherzte – noch dazu auf seine Kosten.
***
Zwölfeinhalb Minuten später marschierte Colin hinaus auf
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