Der Bewacher - Swierczynski, D: Bewacher - Fun & Games
Los Angeles – heute
EINS
It’s all fun and games until someone loses an eye.
REDENSART
S ie war gerade erst nach Los Angeles gezogen, als sie zufällig die Decker Canyon Road entdeckt hatte. Irgendwo bei Malibu war sie vom Pacific Coast Highway abgebogen und einen Berg hinaufgerast, und dann die zwanzig Kilometer übelkeiterregender Serpentinen und Haarnadelkurven bis nach Westlake Village. Es war großartig gewesen! Die Hände am Lenkrad des Sportwagens, den sie sich von ihrer ersten richtigen Filmgage gekauft hatte. Denn das machte man doch, oder? Etwas von dem Geld für ein überteuertes, aufgemotztes Cabrio zu verbraten, das bei hundertzehn Sachen seinen Spoiler ausfährt. Es war ihr egal gewesen, dass sie fast fünfzig Stundenkilometer schneller fuhr als auf dieser Straße angemessen gewesen wäre. Sie genoss die Meeresluft, die ihr ins Gesicht blies, die Vibration der Reifen, die kaum noch den Boden berührten, das Brummen des Fahrzeugs, das ihren Körper umgab, und das Wissen, dass eine falsche Bewegung nach links oder rechts ihr
nagelneues Auto mitsamt ihrem nagelneuen Leben auf den Grund einer Schlucht befördern würde. Und Jahre später würden sich die Leute vielleicht fragen: Was ist eigentlich aus dieser hübschen Schauspielerin geworden, die in diesen witzigen romantischen Komödien mitgespielt hat? Damals hatte es ihr Spaß gemacht, die Decker Canyon Road entlangzufahren, denn es hatte das Durcheinander in ihrem Kopf fortgeblasen. Das Leben war auf ein simples, berauschendes Ja oder Nein, Null oder Eins, Leben oder Sterben zusammengeschrumpft.
Doch jetzt raste sie die Decker Canyon Road hinauf, weil sie nicht sterben wollte.
Die Scheinwerfer kamen immer näher.
Der Scheißkerl hatte angefangen, sie zu jagen, als sie vom Pacific Coast Highway auf die Route 23 gebogen war. Er hatte den Motor aufheulen und das Fernlicht aufblitzen lassen und sich an ihre Stoßstange gehängt. So dass sie gezwungen war, auf über neunzig Sachen zu beschleunigen, während sie zu Gott betete, dass der Platz reichte, um die nächste Haarnadelkurve zu nehmen. Dann, ohne jede Ankündigung, ließ er sich zurückfallen und verschwand … aber nur scheinbar.
Die Straße hatte keinen Seitenstreifen.
Und auch keine Leitplanken.
Offensichtlich wusste er das und wollte ihr solch einen Schreck einjagen, dass sie das Steuer verriss.
Ihr Handy lag auf der Mittelkonsole. Dort war es völlig nutzlos. Die Sekunden, die es dauerte, den Notruf zu wählen, wäre sie abgelenkt. Mit möglicherweise fatalen Folgen.
Außerdem, was sollte sie denen erzählen? Schicken Sie jemand zur Route 23, zur siebzehnten Haarnadelkurve von der Mitte aus gesehen? Nicht mal die State Police fuhr hier oben Streife, sie verteilte ihre Strafzettel lieber draußen an der Kanan Road oder der Malibu Canyon Road.
Nein, sie behielt besser die Straße im Auge und die Hände am Steuer, wie Jim Morrison mal gesungen hatte.
Andererseits, Jim war in einer Badewanne gestorben.
Die Scheinwerfer blieben hinter ihr. Alle paar Sekunden dachte sie, sie hätte ihn abgehängt oder er hätte es aufgegeben, oder – lieber Gott, bitte bitte bitte – er wäre über eine Bodenwelle gefahren und in die Schlucht gestürzt. Doch jedes Mal, wenn sie glaubte, er wäre verschwunden … tauchte er wieder auf. Wer auch immer hinter dem Lenkrad saß, scherte sich einen Scheiß darum, dass sie sich auf der Decker Canyon Road befanden, wo eine falsche Bewegung mit dem Lenkrad bedeutete, dass man bei Gott die Rechnung bestellen konnte.
Inzwischen hatte sie drei Kilometer zurückgelegt; fünfzehn lagen noch vor ihr.
Ihren Boxster hatte sie schon lange nicht mehr; sie hatte ihn vor drei Jahren nach einem Unfall in Studio City in Zahlung gegeben. Sie fuhr jetzt einen Wagen, der zu ihrem Alter passte – einen geleasten Lexus. Einen Wagen für Erwachsene. Ein tolles Fahrzeug. Doch als sie jetzt in der Dämmerung um diese unglaublich engen Kurven fuhr, wünschte sie sich ihren Boxster zurück.
Die Decker Canyon Road war für zwei Dinge bekannt: für die verrosteten Fahrgestelle, die über die Hügel verstreut waren, und die erstaunliche Tatsache, dass selbst
umsichtigen Fahrern übel wurde, die lediglich versuchten, Westlake Village heil zu erreichen.
Ihr war kotzübel, allerdings wusste sie nicht, ob es an der Straße lag oder an den Ereignissen der letzten Tage. Vor allem der letzten paar Stunden. Sie hatte kaum etwas gegessen, kaum geschlafen.
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