Der Beweis des Jahrhunderts
Artikel zu schreiben, antwortete er: »Das 242 ist mit nichts zu vergleichen. Ich hatte gar nicht wirklich etwas mit ihm zu tun. Burago kam, und wir redeten, und dann ging Burago wieder und redete mit ihm, und ich glaube, es war Perelman, der die Sachen dann niederschrieb.«
Ich konnte es kaum glauben. »Das heißt, Sie haben sich das Manuskript gar nicht angesehen?«
»Nein.«
»Aber bestand da nicht die Gefahr, dass jemandem unterwegs ein Irrtum unterlaufen sein konnte?«
»Ja, natürlich, die Gefahr besteht immer. Es kommt oft vor, dass jemand einen Teil schreibt und jemand anderer einen anderen Teil, und dann passen beide nicht zusammen. Einige berühmte Mathematiker haben auf diese Weise schlechte Artikel fabriziert.«
»Und das ist kein Grund, das Manuskript zu lesen?«
»Das Manuskript? Nein, natürlich nicht. Es ist uninteressant, zu lesen, was man schon getan hat. Man erledigt die Arbeit – und dann denkt man nicht mehr daran.«
Das war Perelmans Schule. Als er in Stony Brook Vorlesungen hielt, fanden Kleiner und Lott ihn mit Blick auf seinen Beweis so zugänglich und gesprächsbereit, wie ein Mathematiker nur sein kann. Als sie ihn jedoch gegen Ende seines Aufenthalts fragten, ob er, wenn sie fertig seien, einen Blick auf ihre Kommentare werfen würde, lehnte er ab. »Er hätte sich eine halbe Stunde hinsetzen, es durchsehen und ein paar Worte dazu sagen können«, meinte Kleiner, dem sein Erstaunen über Perelmans Reaktion noch fünf Jahre später anzumerken war. »Eigentlich ist das das Mindeste, was man erwarten kann. Aber er ist nun mal nicht mit normalen Maßstäben zu messen.« Kleiner fiel 243 noch ein, dass Perelman zur Erklärung gesagt habe, er sei, wenn er sich ihre Kommentare anschaue, in gewisser Weise verantwortlich für ihre Arbeit. Zwei von Perelmans typischen Charakterzügen verbanden sich hier auf nahezu perfekte Weise: sein hypertrophierter Sinn für persönliche Verantwortung und seine ebenso solipsistische Auffassung von der Wichtigkeit eines mathematischen Problems. Aus dem Mittelpunkt des Universums, in dem Perelman stand, begann die Poincaré-Vermutung in die Vergangenheit zu entschwinden. Wie Gromow sagt: »Man erledigt die Arbeit – und dann denkt man nicht mehr daran.« Perelman wusste, dass er Monate später, wenn Kleiner und Lott ihre Kommentierung zum Abschluss gebracht hätten, an Diskussionen über die Poincaré-Vermutung kein Interesse mehr haben würde.
So setzten Kleiner und Lott ihre Arbeit an Perelmans Artikeln ohne ihn fort. Hier und da stießen sie auf einige Probleme – tatsächlich glaubte Kleiner einmal, einen gravierenden, möglicherweise fatalen Fehler entdeckt zu haben, aber Lott belehrte ihn eines Besseren –, und sie stellten fest, dass Perelman selbst in diesen äußerst konzentrierten Abhandlungen seiner Gewohnheit treu geblieben war, nicht einfach die Lösung des Problems, sondern vor allem die Geschichte seiner Beziehung zu dem Problem darzustellen. Gegen Ende ihrer Arbeit am ersten Artikel wurde ihnen klar, dass einige seiner frühen Abschnitte tatsächlich in sich abgeschlossen waren und keinen Einfluss auf den späteren Gang der eigentlichen Beweisführung hatten.
Im September 2004 , nach dem Workshop am Clay Mathematics Institute, teilte Tian Perelman via E-Mail mit, dass 244 »wir den Beweis jetzt verstanden haben«. Seit ihrem Spaziergang am Charles River seien nun anderthalb Jahre vergangen, und Tian fragte, ob er seine Preprints nicht veröffentlichen wolle, da er und Morgan sich überlegten, ein Buch daraus zu machen. Perelman ließ Tians Mail unbeantwortet. »Vielleicht dachte er, dass er genug für eine Veröffentlichung getan habe, als er seine Artikel in arXiv stellte«, sagte Tian in unserem Gespräch. »Oder er war zu dieser Zeit schon nicht mehr gut auf mich zu sprechen. Ich bin Journalisten aus dem Weg gegangen, weil ich erstens nicht gern mit Journalisten rede und weil es zweitens Zeit kostet.« Im Frühjahr 2004 allerdings hatte Tian auf Anfrage eines Freundes sein Schweigen gebrochen und doch einem Journalisten Auskunft gegeben, der für die Zeitschrift Science arbeitete. Nun vermutete er, dass Perelman von diesem Vertrauensbruch erfahren und ihm deshalb nicht geantwortet hatte. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass Perelman einfach nichts zu sagen hatte. Alles war so gekommen, wie er es vorausgesagt hatte, und er hatte nie vor, seine Preprints auf klassischem Wege zu publizieren – warum also sollte er noch etwas
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