Der Beweis des Jahrhunderts
mir, »wäre es unpassend gewesen, ihm diese Frage zu stellen.« Vielleicht war es ein Anflug jener Scheu, die Carlson so lange hatte in Zaum halten können. Vielleicht wollte er die Frage auch deshalb nicht stellen, weil er sich die geringe Hoffnung, dass Perelman vielleicht doch annehmen werde, noch für ein weiteres Jahr bewahren wollte. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Tür ganz und gar verschlossen war.«
Gegen Ende des Gesprächs sagte Perelman: »Ich sehe keinen Sinn darin, dass wir uns treffen.«
Am Tag darauf traf ich Carlson im Steklow-Institut. Er besuchte seinen alten Freund Anatoli Werschik, den Vorsitzenden der St. Petersburger Mathematischen Gesellschaft. Werschik hatte Perelman einst für den EMS -Preis vorgeschlagen, den dieser dann ablehnte. Werschik und 299 Carlson tranken Tee. Yaus Name fiel, offenbar veranstaltete er eine Tagung zur Feier seines neunundfünfzigsten Geburtstags. 2 »Ich verstehe das nicht«, grummelte Werschik, »ich weiß, dass Gian-Carlo Rota eine Tagung aus Anlass seines vierundsechzigsten Geburtstags veranstaltet hat, 3 aber vierundsechzig ist zwei hoch sechs – und was ist neunundfünfzig? Eine Primzahl!« Klatschgeschichten unter Mathematikern.
Den Rest seines dreitägigen Besuchs verbrachte Carlson damit, alte Mathematikerfreunde wiederzusehen, in seinem Hotelzimmer Cello zu spielen – auf einem speziellen, perfekt geometrischen Reisemodell – und über Perelman und den Preis nachzudenken. Er kam zu dem Schluss, dass der Clay-Preis, ganz egal, wie sich Perelman entscheiden würde, zum Wohle der Mathematik eingesetzt werden kann, ja, dass dies schon jetzt gelungen sei. Als wir auf einen exotischen Mittagswodka in ein Café namens Idiot gingen, sagte er zu mir: »Es ist gut, wenn der Öffentlichkeit erklärt wird, dass es ungelöste mathematische Probleme gibt. Erstaunlicherweise wissen viele Leute das nicht.«
Viele Mathematiker kritisierten Geldpreise wegen ihrer Oberflächlichkeit, das sei schon wahr. Einige empfänden diese Praxis sogar als Beleidigung; selbst sein Freund Werschik habe aus genau diesen Gründen kritisch über den Millennium-Preis des Clay Mathematics Institute geschrieben. 4 Andererseits aber hat Carlson, wie er mir erzählte, viele Gespräche mit Studenten geführt, die wissen wollten, was denn diese Eine-Million-Dollar-Probleme seien. In gewisser Weise habe der Trubel um den Preis auch unerwartete Vorteile gehabt. »Die Mathematik der 300 Öffentlichkeit näherzubringen, ohne einen Pfennig auszugeben, ist schon eine Leistung«, sagte Carlson nicht ohne Stolz. Perelman sei, ohne es zu wissen, sein Komplize: »Die Öffentlichkeit interessiert sich stärker für jemanden, den das Geld nicht interessiert.«
Carlson setzte gewiss eine tapfere Miene auf, aber er war sich auch ganz sicher, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, um einer Leistung die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie verdient hat. In keinem meiner Gespräche mit ihm hatte ich den Eindruck, dass er Perelman etwas übel nahm, womit er sich ein bisschen von anderen Mathematikern unterschied, die ich interviewt habe: Anders als Kleiner musste Carlson wegen Perelmans Leistung keine seiner beruflichen Ambitionen aufgeben; anders als Tian ist er von Perelman nie persönlich gekränkt worden. Er verstand Perelman nicht – zumindest behauptete er nicht, ihn zu verstehen. Er respektierte ihn – ohne Einschränkung.
Ich habe nur eine Person getroffen, die nicht nur behauptete, Perelman zu verstehen, sondern die ihn manchmal wohl auch beeinflusst hat, und das ist Gromow.
»Glauben Sie, dass er die Million Dollar annehmen wird?«, fragte ich ihn.
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Er hat seine Grundsätze.«
»Welche Grundsätze?«
»Clay ist ein Nichts, aus seiner Sicht – warum sollte er Geld von ihm annehmen?«
»Gut, Clay ist Geschäftsmann, aber es sind Perelmans Kollegen, die die Entscheidung treffen«, wandte ich ein 301 und gebrauchte dabei ein Wort, das im Russischen sowohl »Entscheidung« als auch »Lösung« bedeutet.
»Diese Kollegen machen Clays Spiel mit!« Gromow geriet in Rage. »Sie entscheiden [haben die Lösung]! Er kann mit ihren Lösungen nichts anfangen! Er hat das Theorem gelöst, was gibt es da sonst noch zu lösen? Niemand löst irgendwas! Er hat das Theorem gelöst.« *
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Dt.: Was ist Mathematik? , Berlin/Heidelberg: Springer 2010 ; Anm. d. Übers.
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Am 18 . März 2010 sprach das Clay Mathematics Institute
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