Der Blutengel
wünschte, und sie bekam auch mit, dass noch eine zweite Person neu dabei war, eine Frau.
Der große Druck verschwand für den Moment. Sie ließ sich zurücksinken und konnte sogar lächeln. In ihrer Lage setzte sie ein großes Vertrauen in den Arzt.
Allerdings musste sie noch warten, bevor jemand an den Vorhang herantrat und ihn langsam zur Seite zog.
Iris King hatte sich zur Seite gedreht. Es sollte ihr nichts entgehen, und sie sah in das lächelnde Gesicht eines älteren Mannes mit grauen Haaren, die straff nach hinten gekämmt waren. Der weiße Kittel stand offen. Darunter trug der Arzt eine hellblaue Hose und ein locker fallendes T-Shirt.
Iris King dachte daran, dass der Mann aussah wie jemand aus den TV-Serien. Er machte auf sie einen vertrauenserweckenden Eindruck, und der Blick seiner Augen war überaus freundlich.
Eine Schwester befand sich in seiner Begleitung. Sie war eine korpulente Person, die ihre Haare hennarot gefärbt hatte. Die breiten Lippen waren von einem blassen Stift nachgezogen worden.
»Wie geht es Ihnen, Miss King?«
»Ich weiß nicht.«
»Es geht Ihnen nicht schlecht?«
»Nein, aber Sie kennen meinen Namen?«
»Wir fanden in Ihrer Gürteltasche alles Wichtige. Ach ja, ich bin übrigens Dr. Kellerman.« Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie auch berührte und sich über ihren schlaffen Druck ärgerte.
»Wir haben versucht, Angehörige von Ihnen zu benachrichtigen, hatten aber leider kein Glück damit und...«
»Ich weiß, Doktor. Meine Eltern sind nach Athen gefahren.«
»Die Spiele.«
»Ja.«
»Hätte ich auch gern live gesehen. Aber jetzt zu Ihnen, Iris. Ich darf Sie doch so nennen – oder?«
»Gern.«
»Sie hatten also einen Schwächeanfall, und deshalb hat man Sie hier eingeliefert.«
»Das muss wohl so gewesen sein.«
»Können Sie sich daran erinnern, wie es dazu kam?«
Iris überlegte. Eigentlich wollte sie sich nicht daran erinnern, doch jetzt, wo sie schon mal danach gefragt worden war und sie auch Vertrauen zu diesem Arzt hatte, da wollte sie sich nicht quer stellen und berichtete, was sie wusste.
Dr. Kellerman hörte sehr konzentriert zu. Auch im Gesicht der Schwester zuckte kein Muskel. Als Iris mit ihrem Bericht fertig war, fragte er: »Sonst haben Sie nichts erlebt? Und Sie können sich auch an nichts erinnern?«
»N... nein...«
»Hm. Das klang mir schon ein wenig zögerlich. Hat es da trotzdem etwas gegeben?«
Iris schnaufte. »Ja, schon«, gab sie zu.
»Bitte, ich höre.«
»Aber es ist Unsinn«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich mich damit lächerlich mache.«
»Das sollten Sie mir überlassen. Ich höre Ihnen gern zu, wenn Sie erzählen, was Sie erlebt haben.«
»Da war noch ein Geist.« Nach diesen Worten schaute Iris den Arzt ängstlich an, weil sie damit rechnete, dass er sie auslachen würde, aber er tat nichts dergleichen.
»Weiter bitte.«
Sie fasste wieder Mut. »Ein... ein... Engel, glaube ich.«
»Sehr schön. Und den haben Sie gesehen?«
»Ja. Und noch mehr.« Sie senkte den Blick. »Ich... ich... sah Blut. Sehr viel Blut. Es hatte sich wie eine Wand im Hintergrund aufgebaut. Als hinge dort ein roter Teppich. Und aus ihm kam die Gestalt. Dieser... dieser... seltsame Engel. Er flog auf mich zu, und ich sah noch sein schreckliches Gesicht, aber dann war es vorbei.«
Dr. Kellerman nickte. »Bleiben wir mal dabei, dass es ein Engel gewesen ist, Iris, und deshalb möchte ich Sie fragen, ob diese Begegnung neu für Sie gewesen ist.«
Wieder musste sie schnaufen. Und jetzt ließ sie sich Zeit mit ihrer Antwort. Die Hände fuhren unruhig über die Decke hinweg, und sie bewegte auch ihre Schultern.
»Nein, Dr. Kellerman, das ist nicht neu für mich gewesen. Ich... äh... ich kannte das schon.«
»Woher?«
»Aus den Nächten. Vielleicht aus meinen Träumen. So genau kann ich das nicht sagen.«
»Aber es passierte immer in der Nacht – oder?«
»Ja, das ist so gewesen. Nur in der Nacht.«
»Wir kommen der Sache schon näher«, lobte der Arzt. »Und wie fühlten Sie sich, wenn Sie am Morgen erwachten?«
»Schlecht.«
»Also völlig matt – oder?«
Iris nickte und antwortete schnell. »Ja, ich fühlte mich richtig kaputt. Wie jemand, der nicht geschlafen hat. Aber das war bei mir nicht der Fall. Ich habe geschlafen. Tief und fest. Bis dann die verfluchten Träume kamen und der anschließende Morgen. Da war dann mit mir nichts anzufangen.«
Sie musste schlucken, um die Tränen zu unterdrücken. »Ich habe auch meinen Job
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