Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
Vom Netzwerk:
Brust. Doch auch als sie zum Lumenkristall hinübersah, den sie zu Ehren ihrer toten Eltern Tag und Nacht in der Zimmerecke leuchten ließ, brach das Pfeifen nicht ab. Also hob sie die Beine von der Pritsche und stellte die nackten Füße auf den gestampften Lehmboden. Mit kleinen Schritten schlich sie zur Tür.
    Sich durch kein Geräusch zu verraten, hatte Animaya wie alle in ihrem Volk von Geburt an gelernt. Schon den Babys wurden Stoffknäuel in den Mund gestopft, damit sie nicht schrien. Das hatte einen guten Grund.
    Der Wald ist böse. Nur in den Mauern von Paititi ist das Volk sicher.
    Die Spinnenmenschen lauerten überall. Auch vor den Krokodilreitern mit der grün schimmernden Haut musste man sich in Acht nehmen. Immer wieder drangen sie mit kleinen Truppen in das Territorium des flüsternden Volkes ein und fielen hinterrücks über einzelne Jäger im Wald her. Aus reiner Boshaftigkeit töteten sie jeden Menschen, der sich zu weit von Paititi entfernte.
    Doch das Volk flüsterte nicht wegen der Spinnenmenschen oder der Krokodilreiter, die den Standort Paititis genau kannten, sondern um sich vor einem Feind zu schützen, der noch hundertmal heimtückischer war: den Albinas, auch Schwestern des Nebels genannt. Das waren grausame, rachsüchtige und mordlüsterne Wesen, die nicht aus dieser Welt zu stammen schienen.
    Im Gründungsmythos der Stadt waren ihre widerlichen Taten festgehalten. Als ein Inka vor Hunderten von Jahren friedlich durch den Dschungel wanderte, um einen fruchtbaren neuen Lebensraum für sein Volk zu finden, hatten die Albinas unter dem Volk gewütet, das damals noch nicht das flüsternde war. Das Volk war fleißig. Es rodete Bäume, mauerte Häuser und Paläste, pflanzte Mais. Doch so hoch die Mauern auch wurden, sie schützten nicht vor den kaltblütigen Feinden. Alle achtundzwanzig Tage, wenn der Mond voll war, stürzten sich die Albinas in tiefster Nacht auf die Schlafenden und metzelten sie nieder. Waffen benötigten sie dafür nicht. Statt Händen wuchsen ihnen Klingen aus den Armen, schärfer als die Kanten des Obsidiangesteins. Körper um Körper fiel unter ihren Schlägen. Ihr Durst nach Blut war unstillbar.
    Als sich das Volk längst geschlagen sah, scharte der damalige Inka seine vierzehn Yatiri um sich – heilige Männer, die die Mächte der Natur durch Zauberei bezwingen konnten. Nach langer Beratung fanden sie eine Möglichkeit, die Albinas zu besiegen: durch Schweigen. Denn die Schwestern des Nebels haben nur eine Schwäche. Sie besitzen keine Augen. Daher können sie bloß die Menschen aufspüren, die sich durch Geräusche verraten.
    Die Yatiri beschworen ein Gewitter herauf, das den Wald ein halbes Jahr lang heimsuchte. Blitze zuckten, Donner grollte, Wind heulte durch die Bäume. Der Lärm traf die Albinas unvorbereitet. Er verwirrte ihnen die Sinne und so taumelten sie orientierungslos durch den Wald.
    Währenddessen kam kein Wort über die Lippen des Volkes. Schweigend streuten die Bewohner Paititis Samen auf die Dächer ihrer Häuser, setzten junge Bäume auf die Plätze, pflanzten Kraut in die Fugen ihrer Straßen, Blumen auf Tempel und Palast. Als sich das Gewitter verzog, war die Stadt überwuchert und von ihrer Umgebung nicht mehr zu unterscheiden.
    Die Albinas verloren die Spur. Seitdem tasteten sie sich durch den Wald, rasend vor Wut und auf der Suche nach dem flüsternden Volk, um blutige Rache zu nehmen für die Schmach ihrer einzigen Niederlage. Als Erinnerung an die ständig lauernde Gefahr ließen es die Yatiri jeden Tag zwei Stunden lang regnen.
    So weit die Legende. Animaya war nie einer Albina begegnet und legte auch keinen Wert darauf. Es gab niemanden, der den Kontakt mit ihnen überlebt hatte. Alle achtundzwanzig Nächte, bei Vollmond, drang ihr Klagen durch die Baumwipfel. Dann fand keiner Schlaf. Noch aus einem anderen Grund glaubten alle an die Existenz des Feindes: Ein paarmal im Jahr fanden die Wachen einen grausam zugerichteten Körper.
    Â» Wenn du nicht sofort leiser flüsterst, kommen die Albinas und holen dich!«, war eine Drohung, mit der Eltern ihre Kinder zurechtwiesen. Bei den Kleinen war dieser Satz noch wirksamer als das zweite heilige Gesetz:
    Wer laut redet oder lacht, dem wird die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Denn er schadet seinem Volk, weil er es an die Feinde verrät.
    Animaya

Weitere Kostenlose Bücher