Die guten Frauen von Christianssund: Sommerdahls erster Fall (German Edition)
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In ein paar Stunden werde ich ein Mörder sein. Eigentlich müsste mich der Gedanke zu Tode erschrecken, doch wenn ich ganz ehrlich sein soll, beschäftigt mich im Augenblick mehr mein rechtes Bein, das eingeschlafen ist. Vor einigen Minuten fing ich an, das Gefühl darin zu verlieren, und kurz darauf kribbelte es, als würde ich von Tausenden winzig kleiner Nadeln gestochen. Das Problem ist die Wartezeit, die ich in einem Schrank verbringe, der so eng ist, dass ich mich buchstäblich nicht bewegen kann, ohne an etwas zu stoßen. Das Risiko, dass mich jemand hören könnte, ist also verhältnismäßig groß. Und irgendjemand befindet sich noch im Gebäude, da bin ich ziemlich sicher. Jedenfalls höre ich von irgendwoher Musik. Vermutlich hätte ich mehr Platz, wenn ich den Schrank mit den Putzmitteln gewählt hätte, nur konnte ich mich aus verständlichen Gründen dort nicht verstecken. Ich versuche, ein wenig mit dem Fuß zu wippen, um die Muskeln des Knöchels zu strecken und zu dehnen, habe aber das Gefühl, als würden sich die Nadeln nur noch tiefer ins Fleisch bohren. In ein paar Sekunden werde ich mir die Hand auf die Lippen legen müssen, um ein Jammern zu unterdrücken. Lautlos verfluche ich mich selbst. An so etwas hätte ich vorher denken müssen. Allerdings wäre ich überhaupt nicht in diese Situation geraten, wenn ich mir das vorher so genau überlegt hätte. Dann würde ich heute Abend ins Bett gehen können, ohne das Leben eines anderen Menschen auf dem Gewissen zu haben, und Lilliana würde weiterleben, ohne auch nur zu ahnen, wie erleichtert sie sein müsste.
Mir kommen beinahe die Tränen. Es ist zehn nach sechs. Wollen die Letzten denn nicht bald mal nach Hause? Möglicherweise ist es hier längst menschenleer? Vielleicht hat nur einer der Grafiker vergessen, sein Radio auszuschalten? Soll ich es wagen? Wenn mich jemand in dieser Situation erwischt, ist das Spiel aus. Dann muss ich von vorn anfangen, einen anderen Zeitpunkt finden, eine andere Methode, ein neues Alibi … Vorsichtig winkele ich den Arm an. Der Plastikoverall knattert wie ein Festzelt im Sturm, und die blauen Plastikhüllen, die ich über die Schuhe gezogen habe, sind auch nicht gerade geräuschlos. Das Haarnetz und die Gummihandschuhe kann man nicht hören – aber ich wünschte, ich hätte sie nicht angezogen! Klebrige Tropfen aus Schweiß sammeln sich am Haaransatz, unter den Achseln und auf dem Rücken. Und ich muss hier noch mindestens drei Stunden ausharren.
Noch einmal versuche ich, mich anders hinzustellen; vorsichtig lehne ich mich an den Rand einer Pappkiste und bemühe mich, ruhig zu atmen. Die Minuten schleppen sich dahin. Plötzlich kommt jemand in die Küche und bleibt ein paar Meter von meinem Versteck entfernt stehen. Ich habe das Gefühl, als würde mein Herz im Hals schlagen oder direkt unter dem Kehlkopf festsitzen. Ich atme so lautlos wie möglich und richte mich vorsichtig auf. Durch einen Spalt der Lamellentür sehe ich, dass Anders K. dort draußen rumort. Er pfeift leise und unmelodisch, während er den Kühlschrank untersucht. Er nimmt sich eine Scheibe Graubrot und ein paar Schokoladenplättchen, dann geht er. Nicht mal die Brottüte hat er wieder verschlossen. Das überlässt er vermutlich Lilliana – als hätte sie nicht genug zu tun. Typisch für dieses aufgeblasene Arschloch! Ich will mich gerade richtig aufregen, als mir einfällt, dass das, was ich Lilliana bald antun werde, sehr viel schlimmer ist, als sie eine Tüte aufräumen zu lassen. Ich lehne mich zurück und versuche, mich zu entspannen. Glücklicherweise spüre ich wieder etwas im Bein; ich verlagere das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wippe mit den Füßen und bleibe ständig in Bewegung, damit das Bein nicht noch einmal einschläft.
Eine Stunde später hört die Musik auf. Schnelle, feste Schritte nähern sich. Wieder ist es Anders K., jetzt trägt er seine Skaterjacke. Sie ist viel zu jugendlich und zu lang für ihn. Wie alt ist er? Vielleicht achtunddreißig oder neununddreißig. Und latscht noch immer in Klamotten für Teenager rum. Werd endlich erwachsen, Mann! Er füllt ein großes Bierglas mit Wasser aus dem Automaten, leert es in wenigen Zügen, stellt es auf den Küchentisch und verschwindet. Einen Augenblick später ist er am Empfang und legt den Hauptschalter um. Sämtliche Lampen auf der Etage verlöschen, um mich herum wird es stockfinster. Die Eingangstür fällt zu. Er hat vergessen, den Alarm zu
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