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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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sprechen kommt. Der Rekord liegt bei fünf Sekunden. (Ich hatte mir die Haare sehr kurz schneiden lassen, und mein Vater stellte noch vor der Begrüßung klar, dass ich wie ein Hitlerjunge aussähe.)
    Jetzt bedenkt er mich – wie üblich – mit einem kurzen Über-das-Dritte-Reich-macht-man-keine-Witze-Blick und wird nur durch die Türklingel davon abgehalten, mir von der Freundschaft zwischen Paul Klee und Wassily Kandinsky zu erzählen. Eigentlich schade – vielleicht wäre ihm ja irgendein Detail eingefallen, das ich noch nicht kenne.
    Meine Eltern eilen zum Eingang und öffnen ihren besten Freunden die Tür, der Schauspielerin Ingeborg Trutz und ihrem Exfreund, dem osteuropäischen Theaterregisseur Dimiter Zilnik. Ingeborg ist die Grande Dame des Kölner Schauspielhauses und nutzt auch ihr Privatleben stets für den großen Auftritt:
    »Also, eigentlich ist mir gar nicht nach Feiern zumute. Ich habe gerade einen Bericht über die streunenden Katzen von Fuerteventura gesehen. Ich will ja hier keine schlechte Stimmung verbreiten, aber das hat mir den Appetit verdorben, ganz ehrlich. Na ja, Schwamm drüber! Heute Abend wollen wir einfach Spaß haben. Ich habe eine Migräne, das könnt ihr euch nicht vorstellen, aber das kommt wahrscheinlich vom Elektrosmog – und natürlich von den armen Katzen. Ach, was soll’s. Reiß dich zusammen, Ingeborg.«
    Unnötig zu erwähnen, dass sich Ingeborg Trutz nicht zusammenreißt. Tapfer gegen die Tränen ankämpfend, bringt sie noch hervor:
    »Es sind doch nur Katzen.«
    Dann versagt ihr die Stimme, und die Tränen vermischen sich mit dem viel zu dick aufgetragenen Mascara zu einem dunkelgrauen Matsch. Ingeborg Trutz atmet fünf Sekunden lang pathetisch mit geschlossenen Augen, bis sie die Traurigkeit abrupt durch positive Energie ersetzt:
    »Also, euer Tannenbaum ist ja umwerfend, ist das eine Anspielung an HA Schult?«
    »Nein, an Ilya Kabakov.«
    »Na, egal. Es ist so schön, dass es euch gibt. Ich glaube, ohne euch würde ich mich Weihnachten umbringen, hahaha … Also, entweder mich oder Dimiter. Oder uns beide. Hach, ich werde Weihnachten immer sentimental. Ich hasse diesen ganzen Kitsch. Eine verlogene Scheiße ist das, Kapitalismus pur. Und wenn ich Engelschöre sehe, kommt mir das Frühstück hoch, ehrlich. Aber egal, uns geht es doch gut – auf jeden Fall besser als den Katzen auf … Ach, ich fange nicht schon wieder damit an. Ich liebe euch.«
    Ingeborg umarmt meine Eltern mit großer Geste, bis ihr Blick auf mich fällt:
    »Daniel – auweia, du bist ja so groß geworden!«
    Ich bin zwar seit 13 Jahren nicht einen Zentimeter gewachsen, aber dieser Satz gehört einfach zum Weihnachtsfest dazu.
    Dimiter Zilnik hat bis jetzt noch kein Wort gesagt. Er sagt überhaupt selten etwas – was ihn zur idealen Ergänzung von Ingeborg Trutz macht. Erst wenn sein Alkoholpegel die 1,5-Promille-Grenze überschreitet, bringt er Sätze wie »Der osteuropäische Film hat seine Seele verkauft« oder »Wenn Mutter Courage von einer nackten Studentin gespielt wird, ist das ein Verfremdungseffekt, den Brecht geliebt hätte«. Warum er sich von Ingeborg Trutz getrennt hat, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, warum sie nach der Trennung weiter zusammenleben. Zumindest ist das einem geistig gesunden Menschen schwer zu erklären.
    Jetzt steckt sich Dimiter Zilnik, der wie üblich ganz in Schwarz erschienen ist, eine Zigarre an und hustet dann eine gute Minute lang so blechern, als würde jemand auf eine leere Regentonne einprügeln. Wenn er nicht seit dreißig Jahren exakt so husten würde,müsste man mit seinem baldigen Ableben rechnen. Einmal, in einer Aufführung von Vivaldis Vier Jahres zeiten, hat er den kompletten Frühling durchgehustet, bis ein Ordner der Kölner Philharmonie ihn freundlich aufforderte, den Saal zu verlassen. Was für ihn wahrscheinlich eine Erlösung war, denn er findet Vivaldi »grauenhaft kitschig« und war nur Ingeborg Trutz zuliebe mitgegangen, die später vom Winter so gerührt war, dass ihr Schnappatmungs-Schluchzen den Saalordner erneut auf den Plan rief.
    Ich bin mit diesen Menschen aufgewachsen, und als Kind findet man ja erst mal alles normal, was man im Elternhaus so vorfindet. Ein Durchschnittsmann war für mich jemand, der bis nachts um vier in abgestandenem Zigarrenqualm stockbesoffen über irgendwelche Theaterinszenierungen debattiert, dann wahllos mit der nächstbesten Frau ins Bett geht, die noch nicht eingeschlafen oder vom Nervenarzt

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