Der Boss
abgeholt worden ist, und sich am nächsten Morgen bei einem zehnfachen Espresso darüber beschwert, dass das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung sein Niveau verloren habe. Dass man auch eine monogame Paarbeziehung führen und Dinge wie »Schönes Wetter heute« sagen kann, habe ich erst sehr viel später gelernt.
Ich sehe die Verschrobenheit meiner Eltern und ihrer Freunde inzwischen gerne mit ironischer Distanz und komme auf diese Weise wunderbar damit klar.
Jetzt habe ich allerdings die Sorge, dass meine zukünftigen türkischen Schwiegereltern die Hochzeit abblasen werden, wenn sie meine Eltern zusammen mit Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik erleben. Ich habe versucht, meine Mutter zu stoppen – aber sie hat Aylins Familie tatsächlich eingeladen, um den Heiligabend gemeinsam zu verbringen. Nicht dass ich gegen Integration wäre – ich finde es toll, wenn Türken Weihnachten feiern. Aber bitte nicht mit meinen Eltern!
Ich flehe höhere Mächte an, dass Ingeborg Trutz nicht wieder im besoffenen Kopf das Hemd meines Vaters öffnet und an seiner Brustwarze lutscht wie im letzten Jahr. Ich fühle mich ein bisschen, als sähe ich meiner eigenen Hinrichtung entgegen. Plötzlich fällt mir etwas ein. Ich ziehe meine Mutter beiseite:
»Wo ist der Stoff-Harlekin?«
»In der Kommode.«
»Du musst ihn rausholen. Frau Denizo ğ lu wird beleidigt sein, wenn du ihr Geschenk nicht würdigst.«
»Tut mir leid, im Wohnzimmer haben wir ausschließlich die klassische Moderne.«
»Dann leg ihn halt in den Flur.«
»Zu den Originalskizzen von A. R. Penck???«
»Ja, ich weiß – ein Stoff-Harlekin gehört weder in die klassische Moderne noch in die Postmoderne, sondern in die Mülltonne. Aber es ist doch nur für heute Abend.«
Widerwillig öffnet meine Mutter die unterste Schublade der Kommode und zieht aus der hintersten Ecke den Harlekin mit einer schwarzen Träne im weißen Porzellangesicht und rosa Pailletten im Kostüm heraus. Dieses »Kunstwerk« ist für sie definitiv schlimmer als streunende Katzen für Ingeborg Trutz.
»Pass auf, ich lege dieses … also … das da … ich lege es auf mein Bett. Und wenn Aylins Mutter mich fragt, dann sage ich, dass … es … meinen Schlaf bewacht.«
»Danke, das ist lieb von dir. Ich weiß, wie viel Überwindung dich das kostet.«
»Ich lüge nur für Aylin. Ich mag sie nämlich sehr.«
Jetzt mischt sich mein Vater ein:
»Trotzdem muss die Wahrheit für uns immer das Maß aller Dinge bleiben.«
Ich seufze:
»Rigobert, es geht nur um einen Stoff-Harlekin.«
»Nein, es geht eben nicht um einen Stoff-Harlekin. Es geht um einen abendländischen Konsens. Die Akzeptanz der Wahrheit ist die Voraussetzung für Demokratie.«
»O Mann!«
»Mit kleinen Lügen fängt es an. Und wenn es dann irgendwann um die Menschenrechte geht, sitzt man in der Falle.«
Mein Vater ist ein Meister darin, überall eine Entwicklung zum Faschismus auszumachen. Einmal hat er Bruno, dem Besitzer von »Brunos Teestube«, in einer zweiseitigen E-Mail erklärt, dass das bewusste Nichtausschenken von Kaffee ein totalitär-faschistoides Ausgrenzungsprinzip darstelle – und dass sich Teetrinker ebenso wie Nichtraucher und Fahrradfahrer in einer moralischen Überlegenheit wähnten, die mit der Arroganz der Nazis durchaus vergleichbar sei – woraufhin er das Nichtraucherschutzgesetz mit den Nürnberger Rassegesetzen verglich. Als er später erfuhr, dass Bruno eine jüdische Mutter hat, arbeitete mein Vater eine ganze Woche an einem 23-seitigen Entschuldigungsschreiben. Inzwischen gehört Bruno zu seinem engeren Freundeskreis.
Es klingelt: Aylin und ihre Familie. Als sich ihre Schritte der Wohnungstür nähern, drückt mir meine Mutter den Stoff-Harlekin in die Hand. Ich gehe schnell ins Schlafzimmer und platziere ihn liebevoll auf dem Kopfkissen. Als ich den Blick hebe, stelle ich fest, dass ich mir eigentlich keine Sorgen wegen Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik machen muss. Ich sollte mir nämlich besser überlegen, wie ich verhindern kann, dass Aylins Eltern das Ölgemälde neben dem Bett entdecken, auf dem ein befreundeter Künstler mit beeindruckendem Realismus dargestellt hat, wie sich meine splitternackte Mutter an eine griechische Adonis-Statue schmiegt.
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4
Noch 15 Minuten weniger zur Hochzeit als
am Anfang von Kapitel 3.
Ich schließe die Schlafzimmertür und trete in den Flur, wo meine Eltern gerade von Aylin, ihrem Bruder Cem sowie ihren Eltern mit Küsschen auf beide
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