Der Canyon
sich über ihn und begann mit der Herzmassage, stemmte sich auf den Brustkorb, so dass die Rippen beinahe brachen, einmal, zweimal, dann beatmete er wieder. Luft blubberte aus der Wunde. Tom setzte die Wiederbelebung fort und überprüfte erneut den Pulsschlag.
Erstaunlicherweise hatte der Herzschlag wieder eingesetzt.
Plötzlich schlug der Mann die Augen auf, klare, blaue Augen, die Tom aus einem staubigen, von der Sonne verbrannten Gesicht anstarrten. Der Mann rang nach Atem, und die Luft rasselte in seiner Lunge. Seine Lippen bewegten sich.
»Nein … du Bastard …« Der Mann riss die Augen weit auf, seine Lippen waren nun mit Blut gesprenkelt.
»Moment«, sagte Tom. »Ich habe nicht auf Sie geschossen.«
Die Augen musterten ihn, und die Angst darin ließ nach – verdrängt von etwas anderem. Hoffnung. Der Blick des Mannes glitt zu seiner Hand, als wollte er auf etwas hinweisen.
Tom folgte dem Blick und bemerkte, dass der Verletzte ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch umklammert hielt.
»Nehmen …«, krächzte der Mann.
»Versuchen Sie nicht, zu sprechen.«
» Nehmen Sie es … «
Tom nahm das Notizbuch. Der Einband war klebrig vor Blut.
»Es ist für Robbie …«, keuchte der Mann, und seine Lippen zuckten, offenbar vor Anstrengung. »Meine Tochter … Versprechen Sie mir, dass Sie es ihr geben … Sie weiß schon, wie sie ihn finden kann …«
»Ihn?«
»… den Schatz …«
»Machen Sie sich jetzt keine Gedanken darum. Wir müssen Sie hier rausbringen. Halten Sie durch, bis –«
Der Mann krallte sich mit zitternden Fingern an Toms Hemd. »Er ist für sie … Robbie … niemand sonst … Um Himmels willen nicht zur Polizei … Sie müssen es … versprechen.« Seine Hand zerrte mit erschreckender Kraft an Toms Hemd, ein letztes Aufbäumen des sterbenden Mannes.
»Ich verspreche es.«
»Sagen Sie Robbie … ich … liebe …«
Sein Blick ging ins Leere. Die Hand entspannte sich und sank herab. Tom bemerkte, dass der Mann nicht mehr atmete.
Er begann erneut mit der Wiederbelebung. Nichts. Nachdem er es zehn Minuten lang vergeblich versucht hatte, band er das Halstuch des Mannes ab und breitete es über dessen Gesicht.
Da erst wurde ihm schlagartig klar: Der Mörder musste noch in der Nähe sein. Er suchte die Felsüberhänge und das umliegende Geröll ab. Die Stille war so tief, dass es schien, als hielten die Felsen lauschend Wache. Wo ist der Mörder? Es waren keine anderen Spuren zu sehen, nur die des Schatzsuchers und seines Esels. Das Tier stand etwa hundert Meter entfernt, schwer bepackt; es döste. Der Mörder hatte ein Gewehr und freies Schussfeld. Er könnte Broadbent bereits im Visier haben.
Raus hier, sofort. Er stand auf, griff nach den Zügeln seines Pferdes, schwang sich in den Sattel und drängte das Tier vorwärts. Im Galopp jagte das Pferd den breiten Canyon entlang und um die Felsnadel herum ins Labyrinth. Erst als sie den Joaquin Wash schon zur Hälfte hinter sich gelassen hatten, zügelte Tom das Pferd zum Trab. Ein riesiger, buttergelber Mond ging im Osten auf und beleuchtete das sandige Flussbett.
Wenn er sein Pferd ordentlich rannahm, konnte er Abiquiú in zwei Stunden erreichen.
3
Jimson »Weed« Maddox marschierte am Grund des Canyons entlang, pfiff vor sich hin und fühlte sich einfach großartig. Sein AR-15, Kaliber 5,56 mm, lag zerlegt, gereinigt und sorgsam versteckt hinter Steinen in einem Spalt.
Die Schlucht beschrieb eine Kurve, dann noch eine. Weathers hatte versucht, ihn zum zweiten Mal mit demselben Trick hereinzulegen und ihn im Labyrinth abzuhängen. Der alte Mistkerl mochte Jimson A. Maddox einmal drangekriegt haben. Ein zweites Mal gab es nie.
Zügig ging er das ausgetrocknete Flussbett entlang und kam mit seinen langen Beinen gut voran. Sogar mit Hilfe einer Karte und eines GPS-Geräts war er fast eine Woche lang im Labyrinth herumgeirrt. Doch das war keine Zeitverschwendung gewesen: Nun kannte er das Labyrinth und auch die Plateaus dahinter ziemlich gut. Er hatte reichlich Zeit gehabt, den Hinterhalt für Weathers zu planen – und er hatte ihn perfekt ausgeführt.
Er atmete die duftende Luft des Canyons ein. Hier war es gar nicht so viel anders als im Irak, wo er im »Desert Storm« als Soldat gedient hatte. Wenn es das Gegenteil zu einem Gefängnis gab, dann war es dieser Ort hier – niemand bedrängte einen oder hockte einem dauernd auf der Pelle, es gab keine Homos, Tacofresser oder Nigger, die einem den Tag versauten. Trocken, leer
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