Der Cellist von Sarajevo
sich davon, dass jede Kappe richtig sitzt. Er hat zwei Reserveflaschen, die als Ersatz dienen, falls er Fehler findet. Die Entscheidung darüber, wie viel Wasser man tragen kann, ist in dieser Stadt zu einer Art Kunst geworden. Trägt man zu wenig, muss man öfter losziehen. Jedes Mal setzt man sich der Gefahr auf den Straßen aus und riskiert eine Verletzung oder den Tod. Aber wenn man zu viel trägt, kann man nicht mehr rennen, sich ducken, in Deckung hechten, all das, was nötig ist, wenn man der Gefahr entrinnen will. Kenan entscheidet sich für acht Behältnisse. Sechs stammen aus diesem Haushalt und fassen rund vierundzwanzig Liter Wasser. Zwei weitere von Frau Ristovski werden hinzukommen, einer älteren Nachbarin aus dem Erdgeschoss.
Während er nachprüft, ob seine sechs Flaschen in Ordnung sind, hört er, wie seine Frau aus dem Bett steigt. Sie beugt sich durch die Küchentür und reibt sich den Schlaf aus den Augen.
»Letzte Nacht war es ruhig«, sagt er. »Heute wird es draußen nicht allzu schlimm sein.«
Sie nickt. Beide wissen, dass eine ruhige Nacht keineswegs auf einen ruhigen Tag hindeutet, aber Kenan ist froh, dass es keiner ausspricht.
Seine Frau geht durch die Küche und bleibt vor ihm stehen. Sie legt die Hand auf seinen Kopf, zupft ihn leicht am Ohr und lässt sie dann auf seine Schulter sinken. »Sei vorsichtig.«
Kenan lächelt. Es sind nicht so sehr die Worte, die er tröstlich findet, sondern dass sie sie noch immer ausspricht. Sie weiß genauso gut wie er, dass es so etwas wie Vorsicht nicht gibt, dass die Männer auf den Bergen jeden töten können, überall und zu jeder Zeit, und dass Glück, Schicksal oder was immer auch darüber entscheidet, wer am Leben bleibt und wer nicht, in der Vergangenheit keineswegs diejenigen begünstigt haben, die sich auf eine Art und Weise verhalten, welche man als vorsichtig bezeichnen könnte. Möglicherweise werden diejenigen bestraft, die leichtsinnig sind, aber allem Anschein nach kann es auch jeden anderen treffen. Dennoch gab es eine Zeit, da man einigermaßen auf sein Wohlergehen achten konnte, und er ist dankbar dafür, dass sie um seines Seelenheils willen bereit ist, die Erinnerung daran heraufzubeschwören.
Er sieht, wie sie auf die Flaschen blickt und sie durchzählt. »Frau Ristovski?«
»Ja.«
Sie runzelt die Stirn, streicht sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann wird ihre Miene sanfter, und sie tritt zurück und schaut ihn an. »Du brauchst bald einen neuen Mantel.«
»Ich suche mir einen, wenn ich draußen bin«, sagt er. »Soll ich dir ein Paar Schuhe besorgen?«
Sie lächelt. Kenan grinst zurück. Er ist froh, dass sie noch immer lächeln kann. »Nein«, sagt sie, »aber ich nehme gern eine Mütze, wenn du Zeit dazu hast.«
»Natürlich«, sagt er und steht auf. »Ich nehme an, du möchtest Nerz.«
Sie haben jetzt die Kinder aufgeweckt, deshalb gibt sie ihm einen raschen Kuss auf die Wange, ehe sie sich um sie kümmert. »Du solltest gehen, bevor du sie siehst und eine Stunde mit deinen Witzen verlierst.«
Als sich die Tür zu seiner Wohnung hinter ihm schließt, drückt er sich mit dem Rücken dagegen und lässt sich zu Boden sinken. Seine Beine sind schwer, die Hände kalt. Er will nicht losziehen. Er möchte wieder hineingehen, ins Bett kriechen und schlafen, bis der Krieg vorüber ist. Er möchte mit seiner jüngsten Tochter auf einen Jahrmarkt gehen. Er möchte aufbleiben, ungeduldig darauf warten, dass seine älteste Tochter vom Kinobesuch mit einem Jungen zurückkehrt, den er eigentlich nicht mag. Er möchte, dass sein Sohn, das mittlere Kind, an etwas anderes denkt als daran, wie lange es noch dauert, bis er zum Militär gehen und kämpfen kann.
Gedämpfte Laute dringen aus der Wohnung, und er macht sich Sorgen, dass jemand an die Tür kommen und ihn sehen könnte. Sie dürfen ihn so nicht sehen. Sie dürfen nicht erfahren, wie ängstlich er ist, wie nutzlos er ist, wie ohnmächtig er geworden ist. Wenn er heute nicht nach Hause zurückkehrt, sollen sie ihren Vater nicht so in Erinnerung behalten: vor der Tür sitzend und zitternd wie ein nasser, verschreckter Hund.
Er zieht sich hoch und ergreift die Wasserbehälter. Er hat sie mit einem Stück Seil am Henkel zusammengebunden, wodurch sie zwar sperrig, aber leer halbwegs mühelos zu tragen sind. Wenn sie voll sind, wird es schwerer sein, aber das kommt später, damit braucht er sich jetzt nicht zu befassen. Kenan weiß, dass er zusehends schwächer
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