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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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Prolog
Winter 471/472
    Grimhild trieb ihre Stute an, die sich mühsam durch zum Teil mannshohe Schneewehen kämpfte. Pferd und Reiterin hinterließen kurzlebige Atemwolken in der Luft. Die schwache Sonne reichte nicht aus, um die klirrende Kälte zu vertreiben, nicht einmal, um sie erträglicher zu machen. Grimhild fröstelte, obwohl sie einen dicken Wollmantel über ihrem leinenen Unterhemd trug, und zog den Umhang fester um ihre Schultern. Weder die Wickelbänder um ihre Beine noch die Schnürstiefel, in denen ihre Füße steckten, konnten verhindern, dass die Kälte ihren Körper heraufkroch. Ihr silberblondes Haar, zu einem Zopf zusammengebunden, fiel ihr schwer in den Nacken und fühlte sich unangenehm klamm an. Das Mädchen rieb die Handflächen aneinander, formte die Hände zu einer Schale und hauchte hinein. Es nutzte nicht viel.
    Unter der verharschten Decke erwies sich der Schnee als trocken und feinkörnig, was das Vorankommen leidlich erleichterte, aber die Stute musste trotz allem kräftig arbeiten, weil sie immer wieder in Schneewehen versank. Sie schnaufte bereits vor Anstrengung und bewegte sich nur unwillig fort, dabei war Fála das gutmütigste Pferd im Stall der Niflungen.
    Die Anstrengungen des Rittes schienen Grimhild nichts auszumachen. Aufrecht saß sie im Sattel, den Rücken gestreckt. Trotz ihrer Jugend lag in ihrer Haltung bereits etwas Selbstbewusstes, das Männer veranlasste, sich nach ihr umzudrehen. Schon jetzt konnte man in dem schmächtigen Mädchen die Frau ahnen, die sie einmal werden würde. Grimhild war nicht besonders groß, dennoch hatte man stets den Eindruck, ihr auf gleicher Höhe zu begegnen, was sie ihren herausfordernden grünen Augen verdankte. Es gab nicht viele, die ihrem Blick standhalten konnten. Gislher, ihr Lieblingsbruder, hatte ihr den Spitznamen »Schmiedeauge« gegeben, weil er der Ansicht war, ihre Blicke könnten Steine erweichen und Herzen zum Schmelzen bringen.
    Auf einem Hügel hielt Grimhild an und gab Fála Gelegenheit zu verschnaufen. Sie tätschelte den Hals der Stute, während sie ihren Blick schweifen ließ. Der Anblick von Niflungenland erfüllte sie stets aufs Neue mit Freude, besonders in der friedlichen Stille der Wintertage. Bäume bogen sich unter der Last des Schnees, Wälder und Felsen warfen Schatten in zartem Blau. Das ganze Land schien in tiefem Schlaf zu liegen. Die einzigen Anzeichen von Leben waren die Schnürspur eines Fuchses und das Werk der Zähne von Mäusen und Kaninchen, die in Ermangelung von Grünfutter die Rinden der Baumstämme benagt hatten. Die klare Luft machte es möglich, einen Blick auf den Rhein zu erhaschen, der sich in der Ferne als gewundenes Band dahinschlängelte, ein Anblick, der unweigerlich Grimhilds Herz zum Klopfen brachte. Der Fluss und die Täler ringsumher waren für sie der Inbegriff von Geborgenheit. Sie besaß keine Erinnerung an die Zeit, bevor ihr Vater das Land links des Rheins erobert hatte. Für sie war dies das Land ihrer Sippe.
    Grimhild drehte sich um und konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Tolbiacum, das einstige vicus der Römer, das sich die Niflungen zum Herrschersitz erkoren hatten, war längst hinter bewaldeten Bergrücken verschwunden. Niemand verfolgte sie, obwohl ihr heimlicher Ausflug nicht unbemerkt geblieben war. Volker, der Skop, hatte sie gesehen, als sie sich ihre Stute holte. Aber es war ihr gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass sie nur einen Spazierritt unternahm, und nachdem sie eine Weile mit ihm gescherzt und ihm erlaubt hatte, ihr ein paar Komplimente zu machen, hatte er sie gehen lassen. Es war leicht, einen Mann dazu zu bringen, ihr gefällig zu sein. Männer waren jungen Mädchen gern behilflich, zumal einem hübschen.
    Zweifellos setzte sie sich Gefahren aus, wenn sie allein durch das Land ritt. Die Wege waren unsicher, allerlei Gesindel trieb sich in der Gegend herum. Hin und wieder sandte König Aldrian, ihr Vater, eine Eskorte aus, um die Straßen zu sichern und Wegelagerer zu vertreiben, aber es nützte nicht viel, sie kamen immer wieder. Der Hunger trieb sie dazu, besonders in diesem strengen Winter. So manch einer wurde nach dem Verzehr von schlechtem Mehl vom Heiligen Feuer heimgesucht, litt unter Krämpfen und bekam Brandblasen oder gar brandige Glieder. Ihre Mutter hatte ihr den Pilz am Getreide gezeigt, der die Schuld daran trug. Und Menschen waren nicht die Einzigen, die Hunger litten. Auch Wölfe näherten sich neuerdings den

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