Der Cellist von Sarajevo
sich zur Wehr setzen will, der es genießt, sich zur Wehr zu setzen, von dem Teil zu trennen, der von Anfang an gar nicht kämpfen wollte. Wenn sie ihren richtigen Namen gebrauchte, wäre sie wie die Männer, die sie tötet. Es wäre ein schlimmerer Tod als das Ende ihres Lebens.
Seit sie zum ersten Mal ein Gewehr ergriffen hat, nennt sie sich Strijela – Pfeil. Manche sprechen sie weiterhin mit ihrem früheren Namen an. Sie beachtet sie nicht. Wenn sie nachhaken, erklärt sie ihnen, dass sie jetzt Strijela heißt. Keiner widerspricht. Keiner stellt das, was sie tun muss, in Frage. Jeder macht irgendetwas, um am Leben zu bleiben. Aber falls sie bedrängt werden sollte, würde sie antworten: »Ich bin Strijela, weil ich sie hasse. Die Frau, die ihr gekannt habt, hat niemanden gehasst.«
Strijela hat ihre heutigen Ziele auf Vraca ausgewählt, weil sie nicht möchte, dass sich die Männer sicher fühlen. Sie muss einen äußerst schwierigen Schuss abgeben. Obwohl sie sich im neunten Stock dieses verwüsteten Hauses verbirgt, muss sie zur Festung hin bergauf schießen und die Kugel zwischen einer Reihe von Gebäuden hindurchjagen, die zwischen ihr und dem Ziel stehen. Die Soldaten müssen an Ort und Stelle bleiben, in einem Umkreis von rund drei Metern, und der Qualm aus brennenden Gebäuden verdeckt ihr ab und zu die Sicht. Sobald sie einen Schuss abgibt, wird jeder Heckenschütze auf dem Berg im Süden Ausschau nach ihr halten. Sie werden rasch herausfinden, wo sie ist. Dann werden sie das Gebäude mit Granaten beschießen, notfalls bis auf die Grundmauern. Und dieses Haus ist vor allem deshalb ausgebrannt, weil es ein leichtes Ziel darstellt. Die Chancen, den Folgen ihrer eigenen Kugeln zu entrinnen, sind gering. Aber das ist keine ungewöhnliche Herausforderung. Sie hat schon unter verzwickteren Bedingungen geschossen und mit schnelleren Vergeltungsschlägen rechnen müssen.
Strijela weiß genau, wie lange es dauern wird, bis man sie ausfindig macht. Sie weiß genau, wohin die Heckenschützen schauen und wo die Mörsergranaten einschlagen werden. Wenn der Beschuss aufhört, wird sie weg sein, auch wenn keiner begreifen wird, wie, nicht einmal die Leute auf ihrer Seite, die Verteidiger der Stadt. Wenn sie es ihnen erklärte, würden sie es nicht verstehen. Sie würden nicht glauben, dass sie weiß, was eine Waffe macht, weil sie selbst eine Waffe ist. Dieses besondere Talent erkennen nur wenige an. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie es auch nicht glauben. Aber sie weiß, dass es nicht von ihr abhängt. Man sucht sich nicht aus, was man glaubt. Der Glaube sucht einen aus.
Einer der drei Soldaten entfernt sich von den beiden anderen. Strijela strafft sich, wartet ab, ob die beiden salutieren. Wenn ja, wird sie schießen. Einen Moment lang ist sie unsicher, kann ihre Gesten nicht deuten. Dann tritt der Soldat aus dem schmalen Korridor, durch den die Kugel fliegen kann. In einem scheinbar bedeutungslosen Augenblick hat er sein Leben gerettet. Das Leben besteht fast gänzlich aus solchen Aktionen, wie Strijela weiß.
Sie beobachtet sie noch eine Weile, wartet auf einen Fingerzeig, der ihr vorgibt, wem die erste Kugel gelten soll. Sie will zweimal schießen, alle beide töten, aber sie ist nicht ganz sicher, ob sich die Gelegenheit dazu ergibt, und wenn sie einen Soldaten auswählen muss, will sie die richtige Wahl treffen, falls es eine richtige Wahl gibt. Letzten Endes glaubt sie nicht, dass es eine Rolle spielt. Vielleicht wird einer von ihnen am Leben bleiben, aber er wird nie erfahren, wie knapp er davongekommen ist. Er wird nie erfahren, dass in ihrem Visier nur der Bruchteil eines Millimeters hin oder her darüber entscheidet, ob er in zehn Minuten noch die Sonne auf dem Gesicht spürt oder ungläubig auf seine Brust hinunterblickt, spürt, wie alles, was er war und hätte werden können, aus ihm herausströmt, und dann, in den letzten Momenten, mehr Schmerz erfährt, als er für möglich gehalten hat.
Einer der Soldaten sagt etwas und lacht. Der andere fällt ein, aber Strijela hat den Eindruck, dass er nicht so schallend lacht, seinem Gefährten vielleicht nur einen Gefallen tun will. Soll sie auf den Anstifter oder auf den Mitläufer schießen? Sie ist sich nicht sicher. In den nächsten paar Minuten beobachtet sie die Männer beim Rauchen und Reden. Ihre Hände fuchteln in der Luft herum, als setzten sie harte Striche, halten manchmal inne, wenn der andere spricht, wie gezückte Messer vor dem Zustoßen.
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