Der Cellist von Sarajevo
meisten liebte. Er war so verlässlich wie der feste Griff seines Vaters.
Jetzt kümmert es ihn nicht, ob ihn jemand spielen hört oder nicht. Sein Frack hängt unberührt im Schrank. Die Geschütze auf den Bergen rings um Sarajevo haben ihn ebenso verheert wie die Philharmonie, wie das Haus seiner Familie in der Nacht, als sein Vater und seine Mutter schliefen, so wie sie letztlich alles verheeren werden.
Die Geographie der Belagerung ist einfach. Sarajevo ist ein langer, flacher Landstreifen, auf allen Seiten von Bergen umgeben. Die Männer auf den Bergen beherrschen die Anhöhe und Grbavica, eine Halbinsel im Tal, mitten in der Stadt. Sie feuern Kugeln, Mörsergranaten, Panzer- und Artilleriegeschosse in die übrige Stadt, die mit einem Panzer und kleinen Handfeuerwaffen verteidigt wird. Die Stadt wird zerstört.
Der Cellist weiß nicht, was gleich geschehen wird. Zunächst wird er den Einschlag gar nicht wahrnehmen. Lange wird er am Fenster stehen und hinausstarren. Inmitten des Gemetzels und Durcheinanders bemerkt er dann die Handtasche einer Frau, blutgetränkt und mit Glassplittern übersät. Er weiß nicht, wem sie gehört. Dann senkt er den Blick und sieht, dass er seinen Bogen fallen gelassen hat, und irgendwie kommt es ihm so vor, als bestünde ein Zusammenhang zwischen den beiden Gegenständen. Er ist sich nicht darüber im Klaren, worin der Zusammenhang besteht, aber das Gefühl, dass es einen gibt, zwingt ihn dazu, sich auszuziehen, zum Kleiderschrank zu gehen und die Plastikhülle der Reinigung von seinem Frack zu schälen.
Er wird die ganze Nacht und den nächsten Tag über am Fenster stehen. Dann, um vier Uhr nachmittags, vierundzwanzig Stunden nachdem die Mörsergranate auf seine Freunde und Nachbarn gefallen ist, während sie nach Brot anstanden, wird er sich bücken und den Bogen aufheben. Er wird sein Cello und den Hocker die schmale Treppe zur Straße hinuntertragen. Der Krieg rundum wird weitergehen, während er in dem kleinen Krater sitzt, den die Mörsergranate beim Aufschlag gerissen hat. Er wird Albinonis Adagio spielen. Zweiundzwanzig Tage lang, Tag für Tag, einen für jeden Getöteten. Er wird es zumindest versuchen. Er ist sich nicht sicher, ob er überleben wird. Er ist sich nicht sicher, ob er genügend Adagios übrig hat.
Von alldem weiß der Cellist jetzt noch nichts, während er in der Sonne am Fenster sitzt und spielt. Er hat noch nichts bemerkt. Aber sie ist bereits unterwegs. Sie faucht talwärts, spaltet mühelos Luft und Himmel. Ihr Ziel, durch Zeit und Geschwindigkeit näher gebracht, breitet sich aus. Einen Moment vor dem Einschlag ist zum letzten Mal alles so wie zuvor. Dann explodiert die sichtbare Welt.
Eins
Strijela
Strijela zwinkert. Sie wartet schon lange. Durch das Zielfernrohr ihres Gewehrs sieht sie drei Soldaten neben einer niedrigen Mauer stehen. Einer schaut auf die Stadt hinab, als erinnere er sich an etwas. Einer streckt ein Feuerzeug aus, an dem sich ein anderer eine Zigarette anzündet. Offensichtlich haben sie keine Ahnung, dass sie sie im Visier hat. Vielleicht, denkt sie, glauben sie, dass sie zu weit von der Front entfernt sind. Sie irren sich. Vielleicht meinen sie, niemand könnte eine Kugel zwischen den Gebäuden hindurchschießen, die sie von ihr trennen. Sie irren sich wieder. Sie kann jeden von ihnen töten, vielleicht sogar zwei, wann immer sie sich dazu entscheidet. Und bald wird sie sich entscheiden.
Sie ist inmitten der Trümmer eines ausgebrannten Bürohochhauses versteckt, ein paar Meter hinter einem Fenster mit Blick auf die Berge im Süden der Stadt. Für jeden Ausguck wäre es schwer, wenn nicht unmöglich, eine zierliche junge Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren zu entdecken, die sich in den rauchenden Überresten des Alltagslebens verbirgt. Den Bauch an den Boden gedrückt, liegt sie da, die Beine teilweise mit einer alten Zeitung bedeckt. Ihre Augen, groß, blau und strahlend, sind das einzige Lebenszeichen.
Strijela glaubt, dass sie anders ist als die Heckenschützen auf den Bergen. Sie schießt nur auf Soldaten. Die anderen schießen auf unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder. Wenn sie jemanden töten, wollen sie eine Wirkung erzielen, die weit über das Auslöschen eines Menschen hinausgeht. Sie wollen die Stadt morden. Mit jedem Toten bricht ein Stück von dem Sarajevo aus Strijelas Jugend weg, ebenso wie mit jedem von Mörsergranaten zertrümmerten Haus. Diejenigen, die übrig bleiben, haben nicht nur einen
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