Der Chefarzt
Ragazze mit runden Busen und schamlosen, neugierigen Augen.
Ich will viele Frauen haben, deutsche Frauen. Wenn ich einmal groß bin.
»Tonio kann Koffer tragen, Signora! Tonio sehr stark.« (Er versucht, bei einem rührend dünnen Kinderarm den Bizeps anzuspannen.)
Die Koffer sind schwer. Er keucht. Hat die Ragazza Steine da drinnen? »Grazie, Signora, mille grazie!« Fünfzig Lire, Madonna. Daraus wird eine Eisorgie.
Tonio ist ein guter Sohn. Mit neun arbeitet er in der Bäckerei von Giancarlo Mantovani. Signor Mantovani ist ein gemütlicher Dickwanst, und Tonio darf sich den ewig hungrigen Bauch mit Brot vollschlagen. Jede Nacht steht er um zwei Uhr auf. Seine Muskeln schwellen an vom ewigen Teigkneten, nach zwei Jahren hat er die Oberarme eines Boxers. Tonio spielt mit seinen Muskeln und kneift Franca, der elfjährigen Tochter Giancarlos, bei jeder passenden Gelegenheit in den Hintern. Er ist satt und kann sich etwas Taschengeld ersparen; so ein Leben läßt sich aushalten. Mit sechzehn läuft er von zu Hause weg. Tonio ist ein guter Sohn, aber er will kein Hafenarbeiter werden. Der Vater stößt wilde Beschimpfungen aus, die Mutter weint.
›Ich will kein Hafenarbeiter werden‹ (längst aufgegeben, den Kapitänstraum). Er findet eine Stelle als Aushilfskellner in einer Bar.
Tagsüber geht er mit seinen Freunden am Strand spazieren. Schöne Frauen, blonde Frauen. Tonio und seine Freunde sind wie ein Rudel junger Wölfe. Papagalli, sagen die Frauen, deutsche Frauen, schwedische Frauen. Mit seinen Landsmänninnen kann er nicht viel anfangen. Die italienischen Mädchen sind zu katholisch, sie nehmen die Pille nicht.
Papagallo gut, sagen die blonden Frauen.
Nachts ist es am Strand stockdunkel. Tonio drückt zwei glatte, kühle Schenkel um sich, das Meer rauscht, pssst … pssst.
»Tonio sehr stark, Signora.«
Pssst … Pssst.
Mit einundzwanzig betreibt er eine Pizzeria in einer mittelgroßen westdeutschen Universitätsstadt. Die Studentinnen essen gerne Pizza. Schöne Frauen.
Damit ist ein für allemal Schluß. Hinter der Registrierkasse sitzt hochschwanger mit Adleraugen Sigrid Dellonga, Antonios deutsche Frau. Es ist ihre dritte Schwangerschaft. Der Schwiegervater hat das Betriebskapital für die Pizzeria beigesteuert.
»Tonio«, sagt Frau Sigrid, »was hast du im ›Goldenen Hirsch‹ verloren? Es ist nur ausländisches Gesindel, was da zusammenkommt, schmutzige Makkaronifresser.« Antonio trägt zur Sonntagsmesse weiße Hemden. Er fährt einen Ford.
»Pizza Napolitana? Ja, Herr.«
»Piccata Milanese! Bitte sehr.«
»Tonio«, sagt Frau Sigrid, »wir müssen in diesem Monat etwas mehr beiseite legen. Für die Hochzeit.«
»Si.« (Sie wollen noch kirchlich heiraten. Als sie standesamtlich getraut wurden, war Egon, der erste Bambino – nach dem Schwiegervater getauft –, schon acht Monate unterwegs). Hinterher wird die Frau wieder schwanger, es schlägt bei ihr gleich ein. Inzwischen haben sie genug gespart, um standesgemäß zu heiraten. Er möchte sich eine große Hochzeit leisten. In Neapel. Seine Leute werden Augen machen.
»Schmatz nicht«, sagt Frau Sigrid. »Nimm deine Ellenbogen vom Tisch! Hattest du mir nicht versprochen, die Makkaronifresser nicht mehr hierher einzuladen?«
»Si.« (Er lädt sie nicht mehr ein.)
Er möchte ein deutscher Herr werden.
2
Mit Erwins Besuch im Krankenhaus wurde Lisa Schönhage bewußt, daß sie erst seit vier Tagen hier war. Ihrem Empfinden nach lag ihr bisheriges Leben weit zurück. Erwin mit einem Blumenstrauß an ihrem Bett erschien ihr so verändert, als wäre er nicht derselbe Mann, auf den sie ihr Leben lang tagtäglich gewartet hatte. Fräulein Mörders Blick auf Erwins dunklen Kammgarnanzug und die viel zu langen, breiten Koteletten, die zu seinem Alter nicht paßten, vermittelte ihr ein anderes Bild von ihm. Hier wirkte er farblos, und die Unrast in seinen kleinen, einfältigen Augen verriet sein schlechtes Gewissen – ein Tolpatsch, der seinem billigen Vergnügen nachging und viel zu feig war, um es ihr einzugestehen. Ermutigend lächelte sie ihn an, um ihr Interesse an seinem belanglosen Gespräch zu bekunden. Sie verglich seine stämmige Gestalt mit Dr. Fritschs sensibler Erscheinung, und dieser Gedanke hielt sie eine Weile gefangen. Erst als er weg war, verspürte sie das schlechte Gewissen einer braven Frau, die im Traum einen Ehebruch begangen hatte.
Auch jetzt, nach Erwins Besuch, beschäftigten sich Lisas Gedanken mit dem Tumor,
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