Der Chefarzt
studieren, die seine Sekretärin aus dem Archiv geholt hatte.
Violet Girstenbrey, geborene Fischböck, verstorben am 5.9.1955 im Alter von einunddreißig Jahren. Kinderlos. Eine junge, lebenslustige Frau mit dem feinen Teint der Rotblonden, mit Sommersprossen und einem runden, vollen Busen unter der engen, mit Spitzen bestickten Bluse. Sie lachte und vermittelte gern. (»Karen liebt dich, Hannes. Sie ist eine stolze, leidenschaftliche Frau.«)
Diese Violet hatte einen kleinen, unscheinbaren Mann geheiratet. (»Alois ist nicht schön. Er hat Herz. Von Beruf ist er Ingenieur. Hat etwas mit Heizungskesseln zu tun. Er liebt mich.«) Kurze, abgehackte Sätze. Sie schien dadurch mehr auszudrücken, als sie sagte.
Bertram nahm noch einen Schluck Tee und überschlug die Diagnose auf der ersten Seite der Krankengeschichte. Es war eine alte Angewohnheit von ihm. Beim Studieren von Krankengeschichten wollte er sich zunächst unbeeinflußt seine eigene Meinung bilden. Das erwies sich jetzt als überflüssig. Die Krankengeschichte und der Verlauf der Erkrankung zeigten es: Violet Girstenbrey war an einem soliden apfelsinengroßen Krebstumor der rechten Brust im Stadium des Zerfalls gestorben. Für eine Operation war es zu spät. Die Röntgenbestrahlungen konnten nicht mehr helfen. Ihre Lungen und Knochen waren von mehreren Krebsmetastasen befallen, die unmittelbare Todesursache war eine akute Blutung. Violet war an derselben Erkrankung gestorben wie Karen.
Warum war sie so spät gekommen?
Mein Gott, Karen und Violet. (»Ich kann mir keinen Tag ohne Karen vorstellen, Hannes. Wir sprechen stundenlang von dir. Du mußt viel Geduld aufbringen. Wie alle stolzen Naturen ist sie leicht verletzbar.«)
Wenig später, als er gedankenverloren das Krankenblatt durchblätterte, fand Bertram den Befund eines Probeschnittes aus Violets Brust. Ihm wurde klar, daß sie zweimal in der Klinik gelegen hatte. Die erste Untersuchung wurde ein knappes Jahr zuvor bei ihr durchgeführt und besagte, daß im vorliegenden Gewebe keine bösartigen Zellen gefunden worden waren. Dieser Befund trug die Unterschrift von Stephan Thimm.
›So unwahrscheinlich es heute erscheinen mag‹, dachte Bertram, ›Violet war bei ihrem ersten Aufenthalt in der Klinik als gesund entlassen worden.‹
Dann sah er überrascht das Datum dieses Befundes: 5. Oktober 1954. An diesem Tag, daran erinnerte er sich, wurde bei Karen von Kerckhoff durch einen Probeschnitt Brustkrebs festgestellt.
Antonio Dellonga:
Ein deutscher Herr werden.
1
Der Patient Nr. 8 der internen Intensivstation, Antonio Dellonga, ist nicht tot. Am zweiten Tag bessert sich sein Zustand, er nimmt etwas Griesbrei zu sich und lächelt Schwester Leopoldine Stein, die ihm den Löffel in den Mund führt, dankbar an.
Sein Zustand bereitet jedoch den für die Intensivstation zuständigen Ärzten Kopfzerbrechen. Der Patient, der längst seinen Schock überwunden hat, leidet ständig unter einer überhöhten Herzfrequenz, die allen Medikamenten zum Trotz unbeeinflußbar bleibt. Hin und wieder bekommt er Herzrhythmusstörungen, für die sich keine plausible Ursache findet. Weil diese Rhythmusstörungen in immer kürzer werdenden Abständen auftreten, läßt man, um sich den Weg zu Antonios Blutbahn offen zu halten, den Venenkatheter weiter liegen.
So vergehen die Stunden. Ereignislos. Die flimmernde Herzkurve auf dem Bildschirm des Monitors über seinem Kopf zeigt ermüdend dieselben Schwingungen. Der Kranke stöhnt etwas, dann wird er still. Er schläft, wacht auf, öffnet die Augen und starrt auf die Decke mit einem strengen, abwesenden Blick. Dann lächelt er etwas, als ob er in die Vergangenheit lauschen würde – ein kleiner, schmächtiger Italiener mit flinken Olivenaugen und dem spröden Charme mehrerer Generationen von Hafenarbeitern.
Mit sieben Jahren schwimmt Antonio Dellonga im Hafen von Neapel.
»Tonio«, schreien die großen Buben, »dich frißt ein Fisch.«
»Ich hab' keine Angst. Ich werde Kapitän.«
Das Wasser ist ölig-grau, schwer und liegt ihm im Magen wie Blei. Aber er schluckt es, weil es seinen Hunger stillt. Die ganz großen Passagierschiffe laufen in Neapel ein. Es gibt Musik und Konfetti, Matrosen in ihren adretten Uniformen und Offiziere, die diese Matrosen kommandieren. Es gibt schöne Frauen, dunkle Frauen, blonde Frauen, deutsche Frauen. Es gibt einen Kapitän, der alle kommandiert: die Matrosen und die Offiziere. Das Schiff gehört ihm. Und die Frauen – große blonde
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