Der Chefarzt
aufgeteilt auf einem Tablett vor ihnen. Bertram lächelte gequält. »Durchaus nicht. Ich habe es erwartet.«
Er spürte einen Reiz in seinen Augen, er kam vom scharfen Geruch des Sektionssaales. Er war viel zu lange nicht mehr hier gewesen. Um Stephans Blick von sich abzulenken, sagte er: »Sie hatte nicht die besten Gefäße. Wie fandest du das Herz?«
»Erstaunlich gut. Die Koronargefäße sind zart wie bei einem jungen Mädchen.«
»Sie hatte Glück, gleich zu sterben«, sagte Bertram und verdrängte den Gedanken, als führten Stephan und er ein professionell unpersönliches Gespräch vor dem aufgeschnittenen Leichnam Elisabeths. Sie hatten ihr, jeder auf seine Weise, viel zu verdanken. »Hast du sonst was gefunden?«
»Das Übliche«, sagte Thimm. »Die Milz ist enorm vergrößert. Sonst nichts, was du nicht bereits gewußt hast. Kommst du auf einen Sprung zu mir rauf?«
»Ja. Ich möchte wegen Elisabeths Beerdigung mit dir sprechen.«
In Thimms Zimmer mußten sie über Bücher und vergilbte Krankengeschichten steigen, die in Stapeln den Boden bedeckten. Auf Thimms Schreibtisch lag eine dicke Schicht Staub, die Akten türmten sich, er sah in einem Gefäß einen Daumen. Der Zimmergeruch war kaum zu ertragen.
Man erzählte sich, Thimm drohe jeder Reinemachefrau, die sich seinem Schreibtisch nähere.
»Ich hab' hier Schnaps«, sagte Thimm. »Wenn du inzwischen zu fein dafür geworden bist, sag es.«
Bertram nickte mit einem Blick auf die Schnapsflasche. Thimms Gesicht war ihm aufgefallen, es zeigte eine ungesunde fahle Farbe.
»Wie steht's mit deiner Gesundheit?« fragte er vorsichtig. Mit einer Handbewegung wehrte Thimm ab. »Mir ist Elisabeths Tod nahegegangen. Sie war unsere letzte Verbindung zur Vergangenheit.«
Elisabeth Kerckhoff und Stephan Thimm. Karen und Stephan. Wie lange war es her?
»Ja«, sagte Bertram. Jetzt wußte er, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte. ›Er ist alt geworden‹, dachte er. ›Mein Gott! Er ist schlecht rasiert und ungepflegt, sein Hemd ist nicht mehr ganz sauber, es fehlen Knöpfe. Diese Angewohnheit, an seinen Fingernägeln zu kauen, kenne ich nicht. Warum hat er nie geheiratet?‹
Kaum hatte er daran gedacht, drängten sich schon weitere Fragen auf. Wie lebte er? Gab es eine Frau in seinem Leben? Stephan war mager geworden. Ob er krank war? Im stillen nahm er sich vor, ihn demnächst zu untersuchen. Er müßte sich in Zukunft mehr um ihn kümmern, jetzt, wo Elisabeth nicht mehr da war. Wenn er nur nicht mit Malvina auf Kriegsfuß stünde. Malvina traf keine Schuld. Stephan zeigte von Anfang an eine feindliche Haltung ihr gegenüber, den Grund aber erfuhr er nie. Einem Impuls folgend fragte er unvermittelt: »Sagt dir der Name Girstenbrey was?«
»Nein. Handelt es sich um einen Patienten von dir?«
»Violet Girstenbrey war eine junge Frau, eine gute Freundin von Karen. Leider ist mir ihr Mädchenname entfallen.«
Thimm nahm einen Schluck Schnaps und fragte gleichgültig: »Womit verdient sie dein Interesse?«
»Sie ist hier in der Klinik gestorben. Ein paar Monate nach Karen. An Krebs, nehme ich an.«
»Du nimmst es an? Du weißt nicht, woran sie gestorben ist?«
»Ich habe ihre Krankengeschichte noch nicht studiert. Keine Zeit gefunden …«
»Woher weißt du dann von ihr?«
»Durch einen Brief. Ich fand ihn in Elisabeths Schmuckkassette. Er wurde vor zwölf Jahren von Violets Mann an Elisabeth geschrieben. Er beklagt sich, daß ich mich nicht um sie gekümmert hätte.«
»Du kannst dich nicht um die ganze Welt kümmern. Vergiß es!«
»Ich habe nichts davon gewußt. Diese Geschichte kommt mir merkwürdig vor.«
»Schon möglich«, sagte Thimm gleichgültig, »ich kenne sie nicht.«
Erst später, auf dem Weg zur Klinik, fiel Bertram ein, daß Stephan von der Existenz von Karens bester Freundin gewußt haben mußte. Er hatte ihm die Unwahrheit gesagt.
Als Bertram endlich wieder Zeit fand, darüber nachzudenken, beendeten die Patienten ihren Abendspaziergang im Park. Er war nach einer endlosen Sprechstunde lustlos.
7
An diesem Abend aß Bertram eine Kleinigkeit in seinem Zimmer in der Klinik, bevor er seine Arbeit fortsetzte. Er telefonierte wegen der verschwundenen Juwelen mit dem Staatssekretär Schiepka vom Innenministerium. (»Ich möchte nicht, daß die Sache irgendwem anvertraut wird. Ich kann mir in diesem Fall keine Indiskretion leisten.«) Er legte auf, trank einen Schluck Tee und begann, die Krankengeschichte von Karens Freundin zu
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